Das Experiment
Deiner Anfrage möchte ich Dir mitteilen, daß es meiner Einschätzung nach weder im Interesse unserer Familie noch im Interesse unseres Geschäftes ist, Mutters Grab auf unser Familienanwesen zu verlegen, da die dafür erforderliche Genehmigung für sehr viel Unruhe in Salem Town sorgen würde und die ganze traurige Affäre, die Du so geflissentlich und sorgfältig geheimzuhalten versucht hast, wieder ans Tageslicht käme.
Dein Dich liebender Sohn,
Jonathan
Kim faltete den Brief wieder vorsichtig zusammen und steckte ihn zurück in den Umschlag. Vierunddreißig Jahre nach der Hexenaffäre hatten Ronald und sein Sohn also immer noch Auswirkungen des Dramas für ihre Familie befürchtet; dabei hatte sich die Kolonialregierung zu diesem Zeitpunkt längst in aller Öffentlichkeit für die Hinrichtungen entschuldigt und einen Trauertag angeordnet.
Kim widmete ihre Aufmerksamkeit nun dem alten Notizbuch, das an mehreren Stellen auseinanderbrach. Sie nahm es in die Hand und schlug den Leinendeckel auf. Plötzlich begann ihr Herz zu rasen. Auf der ersten Seite standen die Worte: Dieses Buch gehört Elizabeth Flanagan, Dezember 1678.
Kim blätterte vorsichtig weiter und stellte zu ihrer unendlichen Freude fest, daß sie Elizabeths Tagebuch gefunden hatte! Die Eintragungen, die sie hastig überflog, waren zwar kurz und etwas durcheinander, doch das minderte die Aufregung nicht im geringsten.
Damit das Buch nicht völlig auseinanderfiel, umklammerte sie es mit beiden Händen und eilte zu einem der Mansardenfenster, wo das Licht besser war. Sie begann von hinten nach vorne zu blättern; die letzten Seiten waren leer. Als sie beim letzten Eintrag angelangt war, mußte sie leider feststellen, daß dieser zu einem viel früheren Zeitpunkt geschrieben worden war, als sie gehofft hatte. Er war Freitag, den 26. Februar 1692, datiert.
Diese Kälte scheint kein Ende zu nehmen. Heute hat es noch mehr geschneit. Auf dem Wooleston River ist das Eis so dick, daß man zur Royal Side hinübergehen kann. Ich bin ziemlich in Sorge. Mein Geist ist seit einiger Zeit von einer Krankheit geschwächt; ich leide unter grausamen Anfällen und Krämpfen, die mir Sarah und Jonathan beschrieben haben, nachdem sie vorüber waren. Das gleiche Leiden habe ich auch bei der armen Rebecca, Mary und Joanna beobachtet und natürlich bei Ann Putnam, die ihren ersten Anfall bekommen hat, als sie uns besucht hat. Wenn ich nur wüßte, in welcher Weise ich gegen den allmächtigen Gott gesündigt habe, daß er seine ergebene Dienerin solchen Qualen aussetzt! Ich habe keine Erinnerung an die Anfälle, doch bevor sie beginnen, sehe ich immer Farben,die mir angst machen, und ich höre seltsame Geräusche, die nicht von dieser Welt zu sein scheinen, und dann verliere ich das Bewußtsein, und wenn ich dann wieder bei Sinnen bin, muß ich meistens feststellen, daß ich am Boden liege; außerdem soll ich um mich geschlagen und unverständliche Dinge gemurmelt haben – das jedenfalls berichten meine Kinder Sarah und Jonathan, die, dem Herrn sei Dank, noch nicht von der Krankheit befallen sind. Oh, wie sehr wünsche ich, daß Ronald hier wäre und nicht auf hoher See! Diese Anfälle plagen mich, seitdem ich die Northfields-Ländereien gekauft habe und der böse Streit mit der Familie von Thomas Putman seinen Anfang nahm. Doktor Griggs steht vor einem Rätsel und hat mich ohne Erfolg immer wieder zu entschlacken versucht. Der Winter ist so grausam und eine solche Mühsal für uns alle! Ich habe große Angst um Hiob, der doch noch so unschuldig ist, und ich habe Angst, daß der Herr mich zu sich rufen wird, bevor mein Werk getan ist. Ich habe mich stets bemüht, Gott zu dienen und unserem Land und der Kirchengemeinde zu helfen; dies tue ich, indem ich Roggenbrot backe, damit wir die Vorräte auffüllen können, die durch den harten Winter und die schlechte Ernte zusammengeschrumpft sind. Schließlich müssen auch all die Flüchtlinge satt werden, die wegen der Indianerüberfälle im Norden zu uns gekommen sind. Ich habe die Gemeindemitglieder ermutigt, sie in ihre Familien aufzunehmen, so wie ich es mit Rebecca Sheaff und Mary Roots getan habe. Ich habe den älteren Kindern beigebracht, wie man Puppen bastelt. Wir schenken sie den verwaisten Flüchtlingskindern, die der Herr uns anvertraut hat, damit die Puppen ihnen helfen mögen, ihre wunden Seelen zu heilen. Ich bete für Ronalds baldige Rückkehr und flehe den Herrn um Hilfe an, daß diese furchtbaren
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