Das Experiment
ausgeschlossen zu sein, und zwar in noch höherem Maße als zu Anfang des Monats. Sie begann sich einsam zu fühlen. Zu ihrer eigenen Überraschung stellte sie fest, daß sie sich darauf freute, nächste Woche wieder ins Krankenhaus zu fahren, ein Gefühl, mit dem sie eigentlichnie gerechnet hatte. Tatsächlich hatte sie Ende August bei Antritt ihres Urlaubs geglaubt, daß es ihr schwerfallen würde, im Oktober wieder mit der Arbeit zu beginnen.
Am Donnerstag, dem 22. September, merkte Kim, daß sie sich leicht deprimiert fühlte, und das machte ihr angst. Sie hatte in ihrem ersten Collegejahr unter Depressionen gelitten und wollte es erst gar nicht wieder soweit kommen lassen. Besorgt, die Symptome könnten sich verstärken, rief Kim Alice McMurray an, eine Therapeutin im MGH, die sie vor ein paar Jahren konsultiert hatte. Alice war so nett, am nächsten Tag einen Teil ihrer Mittagszeit für sie zu opfern.
Als Kim am Freitag morgen aufstand, fühlte sie sich ein wenig besser als an den vorangegangenen Tagen. Sie schrieb das ihrer Vorfreude auf den Besuch in der Stadt zu. Da sie während ihres Urlaubs keine Parkberechtigung im Krankenhaus hatte, beschloß sie, mit der Bahn zu fahren.
Sie traf kurz nach elf in Boston ein. Sie hatte noch genügend Zeit und ging zu Fuß vom Nordbahnhof ins Krankenhaus. Es war ein schöner Herbsttag, und die wenigen Wolken am Himmel konnten der Sonne nichts anhaben. Anders als in Salem waren die Bäume in der Stadt noch grün.
Kim tat es gut, sich wieder in der vertrauten Krankenhausumgebung zu bewegen, ein paar Kolleginnen und Kollegen liefen ihr über den Weg, die sie wegen ihrer Urlaubsbräune neckten. Alice’ Büro befand sich in einem Gebäude, das der Krankenhausgesellschaft gehörte. Als Kim die Eingangshalle betrat, war der Empfang verwaist.
Doch fast im selben Augenblick ging eine Tür auf, und Alice erschien.
»Hallo!« begrüßte sie Kim. »Kommen Sie rein.« Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf den Schreibtisch ihrer Sekretärin. »Alle sind zum Mittagessen, falls Sie sich gewundert haben.«
Alice’ Büro war einfach, aber behaglich eingerichtet. In der Mitte des Zimmers standen auf einem Perserteppich vier Sessel um einen Couchtisch, während der kleine Schreibtisch hinten an die Wand gerückt war. Am Fenster stand eine Topfpalme, an den Wänden hingen Drucke von impressionistischen Gemälden und ein paar eingerahmte Diplome und Lizenzen.
Alice war eine üppige, mollige Frau. Sie hatte Kim einmal gestanden, daß sie schon ihr ganzes Leben lang gegen ihr Übergewicht gekämpft hatte. Dieser Kampf hatte Alice ein besonders gutes Einfühlungsvermögen für die Probleme anderer Menschen verschafft.
»Nun, was kann ich für Sie tun?« fragte Alice, als sie beide Platz genommen hatten.
Kim begann, ihre augenblicklichen Lebensumstände zu schildern. Sie versuchte, offen und ehrlich zu sein, und gab uneingeschränkt zu, wie enttäuscht sie darüber war, daß die Dinge sich nicht so entwickelt hatten, wie sie es erwartet hatte. Sie merkte, daß sie bei ihrer Schilderung den größten Teil der Schuld auf sich nahm. Auch Alice entging das nicht.
»Das klingt mir wie eine alte Geschichte«, sagte Alice und schaffte es, die Feststellung nicht wie ein Urteil klingen zu lassen. Sie erkundigte sich nach Edwards Persönlichkeit und seinen sozialen Fähigkeiten.
Kim beschrieb Edward, und Alice’ Anwesenheit half ihr dabei, selbst zu hören, wie sie ihn verteidigte. »Glauben Sie, daß zwischen der Beziehung, die Sie mit Ihrem Vater hatten, und der Beziehung, die Sie jetzt mit Edward haben, eine Ähnlichkeit besteht?« wollte Alice wissen.
Kim überlegte und räumte dann ein, daß ihr dieser Gedanke auch schon gekommen war.
»Mir scheinen die beiden auf den ersten Blick einander recht ähnlich zu sein«, sagte Alice. »Ich weiß noch gut, was Sie mir über die Beziehung zu Ihrem Vater erzählt haben. Beide Männer scheinen so ausschließlich an ihren Geschäften interessiert zu sein, daß für das Privatleben kaum mehr Platz bleibt.«
»Bei Edward ist das etwas Vorübergehendes«, wandte Kim ein.
»Sind Sie da so sicher?« fragte Alice.
Kim überlegte eine Weile, ehe sie darauf antwortete: »Ich denke, man kann nie ganz sicher sein, was ein anderer Mensch denkt.«
»Richtig«, sagte Alice. »Es könnte natürlich sein, daß Edward sich ändert. Trotzdem habe ich den Eindruck, daß Edward Ihre emotionale Unterstützung braucht und Sie sie ihm auch geben. Daran ist
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