Das Experiment
kurvige Straßen und einige seltsam geformte, unbebaute Plätze ineinander übergingen. In Sommernächten verwandelte sich die ganze Gegend oft in eine Art mittelalterlichen Marktplatz, wo Jongleure, Musiker, Leute, Märchenerzähler, Zauberer und Akrobaten ihre Talente unter Beweis stellten.
Es war eine angenehme, laue Nacht. Hoch oben am dunklen Himmel zwitscherten ein paar Nachtvögel, und trotz der hellen Stadtbeleuchtung konnte man die funkelnden Sterne erkennen. Kim und Edward flanierten über den Platz und blieben hin und wieder stehen, um den Künstlern zuzusehen. Sie hatten das Treffen mit Stanton und Candice beide als eher unangenehm empfunden und genossen es nun, alleine zu sein.
»Ich bin wirklich froh, daß ich heute abend ausgegangen bin«, sagte Kim.
»Mir geht es genauso«, sagte Edward.
Schließlich ließen sie sich auf einer niedrigen Betonmauer nieder. Links neben ihnen trug eine Frau eine schwermütige Ballade vor, und zu ihrer Rechten musizierte eine quirlige peruanische Gruppe auf indianischen Panflöten.
»Stanton ist wirklich unmöglich«, bemerkte Kim.
»Ich weiß gar nicht, was mir peinlicher war«, sagte Edward, »die Rede, die er über dich losgelassen hat, oder was er über mich erzählt hat.«
Kim lachte. Ihr war dieser ganze Trinkspruch-Sermon ebenfalls höchst unangenehm gewesen.
»Das Verblüffendste an ihm ist, daß er die Leute manipulieren und trotzdem so charmant wirken kann«, fuhr Kim fort.
»Ja, es ist in der Tat bemerkenswert, was er sich alles herausnehmen kann«, pflichtete Edward ihr bei. »So wie er könnte ich niemals sein. Ich habe immer das Gefühl gehabt, in seinem Schatten zu stehen, und habe ihn oft beneidet und mir gewünscht, mich wenigstens halb so gut durchsetzen zu können wie er. Aber leider bin ich eher zurückhaltend, vielleicht sogar etwas ›kauzig‹.«
»Dann geht es dir wie mir«, gestand Kim. »Ich wollte auch schon immer selbstbewußter auftreten. Aber es ist mir noch nie gelungen. Ich war schon als kleines Mädchen so schüchtern. Nie fällt mir die passende Antwort ein, erst wenn es zu spät ist, weiß ich, was ich hätte sagen sollen.«
»Stanton hat offensichtlich den Nagel auf den Kopf getroffen, als er vorhin meinte, wir beide seien aus dem gleichen Holz geschnitzt«, stellte Edward fest. »Das Problem ist einfach, daß Stanton unsere Schwächen bestens kennt und genau weiß, wie er uns verunsichern kann. Ich sterbe jedesmal zehn Tode, wenn er mit diesem Unsinn von dem Nobelpreis anfängt, den ich angeblich so gut wie in der Tasche habe.«
»Ich entschuldige mich im Namen meiner Familie für ihn«, sagte Kim. »Aber er meint es nicht böse.«
»Wie seid ihr eigentlich miteinander verwandt?« wollte Edward wissen.
»Er ist mein Cousin«, klärte Kim ihn auf. »Meine Mutter ist die Schwester von Stantons Vater.«
»Ich bin eigentlich derjenige, der sich entschuldigen sollte«, sagte Edward. »Schließlich habe ich schlecht über Stanton gesprochen. Dabei kenne ich ihn aus der Uni, wir waren im gleichen Semester. Ich habe ihm immer im Labor etwas geholfen; zum Ausgleich hat er dann dafür gesorgt, daß ich auf den Partys zum Zuge kam. Wir waren ein richtig gutes Team, und seitdem sind wir auch gute Freunde.«
»Wie kommt es dann, daß du noch nicht in eines von seinen Spekulationsprojekten eingestiegen bist?« wollte Kim wissen.
»Ich habe mich nie so richtig dafür interessiert«, antwortete Edward. »Mich zieht es eher in die akademische Welt, in der man nur um der Forschung willen forscht. Nicht daß ich etwas gegen die angewandte Wissenschaft habe. Aber sie ist nun mal nicht so interessant. Außerdem haben Wissenschaft und Industrie zum Teil unterschiedliche Interessen. Vor allem stört mich, daß die Industrie immer darauf bedacht ist, die Ergebnisse ihrer Forschung zunächst geheimzuhalten. Dabei ist freie Kommunikation das Lebenselixier aller Wissenschaft, während die Geheimhaltungsvorschriften der Industrie reines Gift für die Forschung sind.«
»Stanton behauptet, daß er dich zum Millionär machen könnte«, warf Kim ein.
Edward lachte. »Selbst wenn er recht hätte – was würde sich dadurch in meinem Leben ändern? Was ich zur Zeit mache, ist genau das, was ich will: Ich arbeite gleichzeitig in der Forschung und in der Lehre. Eine Million Dollar würde mein Leben nur komplizierter machen und mir meine Unabhängigkeit nehmen. An der Uni bin ich rundum glücklich und zufrieden.«
»Das habe ich Stanton auch schon
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