Das Experiment
wie ein Ölgemälde.
Vorsichtig hob er es hoch und trug es hinaus in den Kellergang, wo er es gegen die Wand lehnte. Auf dem Bild war eine attraktive junge Frau zu sehen; es war ein schönes Bild, auch wenn der Malstil etwas steif und primitiv war.
Am unteren Rand des Gemäldes entdeckte Edward ein kleines Namensschildchen aus Zinn. Er rubbelte mit einer Fingerspitze den Dreck weg und beleuchtete die Stelle. Dann nahm er das Bild und trug es hinüber zu Kim.
»Sieh dir mal an, was ich gefunden habe«, sagte er. Er lehnte das Bild gegen einen Aktenschrank und richtete den Strahl seiner Lampe auf das Zinnschildchen.
Kim drehte sich um und betrachtete das Bild. Sie spürte, daß Edward aufgeregt war. Neugierig las sie das hell beleuchtete Namensschild.
»Du liebe Güte!« rief sie. »Das ist ja Elizabeth.«
Erfreut über die sensationelle Entdeckung trugen sie das Gemälde nach oben, um es im großen Salon bei besserem Licht betrachten zu können.
»Weißt du, was mich am meisten verblüfft?« fragte Edward. »Elizabeth sieht dir total ähnlich, vor allem hat sie die gleichen grünen Augen.«
»Sie hat vielleicht die gleiche Augenfarbe«, gab Kim zu. »Aber Elizabeth war viel hübscher als ich; und wie man sieht, hat die Natur sie etwas üppiger ausgestattet als mich.«
»Was man schön findet, ist natürlich Geschmacksache«, bemerkte Edward. »Und in meinen Augen ist es umgekehrt: Du bist die hübschere von euch beiden.«
Kim starrte auf das Portrait ihrer berüchtigten Vorfahrin. »Es gibt wirklich ein paar Ähnlichkeiten«, sagte sie. »Sie scheint genauso widerspenstige Haare gehabt zu haben wie ich, und auch unsere Gesichtsformen ähneln sich.«
»Ihr könntet glatt als Schwestern durchgehen«, stimmte Edward ihr zu. »Es ist wirklich ein schönes Bild. Ich frage mich, warum man es in den letzten Kellerwinkel verbannt hat? Es gefällt mir viel besser als die meisten anderen Gemälde in diesem Haus.«
»Es ist seltsam«, stellte Kim fest. »Mein Großvater hat sicher von dem Bild gewußt; aber meiner Mutter zuliebe hat er es bestimmt nicht in den Keller verbannt. Die beiden konnten sich nicht ausstehen.«
»Von der Größe her könnte das Bild genau an die Stelle passen, die uns über dem Kaminsims im alten Haus aufgefallen ist«, stellte Edward fest. »Wollen wir es mal mit nach drüben nehmen und ausprobieren, ob es da gehangen hat?«
Edward wollte schon losmarschieren, doch Kim hielt ihn zurück und erinnerte ihn daran, weswegen sie eigentlich hergekommen waren. Edward stellte das Gemälde wieder ab, und sie gingen in die Küche. In der Speisekammer fand Kim schließlich drei Plastikschüsseln mit Deckel.
Dann machten sie sich mit dem Bild auf den Weg zum alten Haus. Kim bestand darauf, das Gemälde zu tragen. Mit seinem schmalen schwarzen Rahmen war es nicht besonders schwer.
»Irgendwie habe ich ein komisches Gefühl«, sagte Kim im Gehen. »Aber es ist ein gutes Gefühl. Es kommt mir beinahe so vor, als sei eine lange verschollen geglaubte Verwandte wieder aufgetaucht.«
»Es ist wirklich ein komischer Zufall«, stimmte Edward ihr zu. »Vor allem wenn man bedenkt, daß wir ja im Grunde ihretwegen gekommen sind.«
Plötzlich blieb Kim stehen. Sie hielt das Bild mit gestreckten Armen vor sich und starrte in Elizabeths Gesicht.
»Was ist los?« fragte Edward.
»Ich mußte einfach darüber staunen, wie ähnlich wir uns sehen«, sagte Kim. Sie starrte weiter auf das Bild, aber plötzlich machte sie einen Satz nach vorne.
»Ist alles in Ordnung?« fragte Edward und legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter.
Kim schüttelte den Kopf und atmete tief durch. »Mir ist gerade etwas Furchtbares durch den Kopf gegangen«, gestand sie.
»Ich habe mir vorzustellen versucht, wie man sich fühlt, wenn man weiß, daß man gehängt wird.«
»Laß mich lieber das Bild tragen«, sagte Edward. »Du kannst die Plastikbehälter nehmen.«
Kim willigte ein, und sie gingen weiter.
»Es muß an der Hitze liegen«, versuchte Edward die Stimmung wieder etwas aufzuheitern. »Oder vielleicht hast du auch nur Hunger. Dann kann die Phantasie schon mal mit einem durchgehen.«
»Ich bin wirklich etwas erschüttert, weil wir dieses Bild gefunden haben«, gab Kim zu. »Mir ist so, als ob Elizabeth über die Jahrhunderte hinweg versuchen würde, mir etwas mitzuteilen – vielleicht will sie mich bitten, ihren Ruf wiederherzustellen.«
Edward starrte sie ungläubig an, während sie nebeneinander durch das hohe Gras
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