Das Experiment
rief Edward. »Bist du hier unten?«
Kim seufzte vor Erleichterung. Jetzt erst merkte sie, daß sie die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Ihre Beine waren so zittrig, daß sie sich an der Kellerwand abstützen mußte. Dann rief sie Edward zu, wo sie war. Kurz darauf stand er vor ihr.
»Du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt«, sagte sie; sie gab sich alle Mühe, so ruhig wie möglich zu klingen. Da sie nun wußte, daß Edward die Geräusche verursacht hatte, schämte sie sich für ihren Panikanfall.
»Das tut mir leid«, erwiderte Edward stockend. »Ich wollte dich wirklich nicht erschrecken.«
»Warum hast du denn nicht schon früher gerufen?« wollte Kim wissen.
»Das habe ich ja«, erwiderte Edward. »Mehrmals sogar. Ichhabe schon an der Haustür nach dir gerufen und dann noch mal im Salon. Ich glaube, der Weinkeller ist schalldicht.«
»So wird es wohl sein«, stimmte Kim ihm zu. »Warum bist du eigentlich hier? Ich habe gar nicht mit dir gerechnet.«
»Ich habe bei dir angerufen«, erklärte Edward. »Und Marsha hat mir erzählt, daß du wegen der Renovierungspläne nach Salem fahren wolltest. Daraufhin habe ich mich ins Auto gesetzt und bin hergefahren. Irgendwie fühle ich mich mitverantwortlich; schließlich habe ich dich ja auf die Idee gebracht.«
»Das ist wirklich nett von dir«, sagte Kim. Ihr Puls raste immer noch wie wild.
»Es tut mir wirklich leid, daß ich dich so erschreckt habe«, beteuerte Edward nochmals.
»Schon vergessen«, sagte Kim. »Außerdem habe ich es mir selbst zuzuschreiben, wenn meine blühende Phantasie mit mir durchgeht. Als ich oben Schritte hörte, habe ich sofort an einen Geist gedacht.«
Edward versuchte seine Hände zu Krallen zu formen und bemühte sich, ein möglichst furchterregendes Gesicht zu ziehen. Kim boxte ihn in die Seite und sagte, sie fände das gar nicht lustig.
»Wie ich sehe, hast du weiter nach Elizabeth geforscht«, stellte Edward mit einem Blick auf die geöffneten Schubladen des Aktenschrankes fest. »Hast du schon etwas Interessantes gefunden?«
»Allerdings«, erwiderte Kim stolz. Sie ging an den Schrank und reichte ihm den Brief, den James Flanagan vor mehr als dreihundert Jahren an Ronald Stewart geschrieben hatte.
Edward zog den Brief vorsichtig aus dem Umschlag und hielt ihn ins Licht. Genau wie Kim kostete es ihn einige Mühe, die Handschrift zu entziffern.
»Indianerüberfälle in Andover!« las er laut vor. »Kannst du dir das vorstellen? Damals haben die Leute wirklich andere Sorgen gehabt als wir.«
Als er den Brief gelesen hatte, gab er ihn Kim zurück. »Faszinierend«, sagte er.
»Und was da steht, regt dich gar nicht auf?« wollte Kim wissen.
»Nicht besonders«, erwiderte Edward. »Warum sollte es mich aufregen?«
»Also, ich finde es erschütternd, daß die arme Elizabeth offenbar gar nicht gefragt wurde«, erklärte Kim. »Sie mußte sich in ihr Schicksal fügen, ob sie wollte oder nicht. Ihr Vater hat sie einfach als Verhandlungsobjekt bei einem Kuhhandel mißbraucht. Wenn das nicht gemein ist!«
»Vielleicht siehst du das nicht ganz richtig«, widersprach Edward. »Im siebzehnten Jahrhundert konnten die meisten Menschen ihr Leben nicht selbst bestimmen. Sie hatten es viel härter als wir heute. Die Leute mußten sich zusammentun, um überhaupt irgendwie zu überleben. Individuelle Interessen haben so gut wie keine Rolle gespielt.«
»Aber das ist doch noch kein Grund, die eigene Tochter zu verhökern«, empörte sich Kim. »Für mich klingt das Ganze so, als wäre sie für ihren Vater nicht mehr gewesen als ein Stück Vieh oder irgendein anderes Gut.«
»Ich glaube wirklich, daß du die ganze Sache falsch siehst«, sagte Edward. »Daß James und Ronald einen Handel vereinbart haben, heißt doch noch lange nicht, daß Elizabeth bei der Wahl ihres Mannes nicht mitreden durfte. Es könnte doch genausogut so gewesen sein, daß sie es als einen Segen empfunden hat, durch ihre Ehe mit Ronald für den Rest ihrer Familie sorgen zu können.«
»Okay, vielleicht war es ja wirklich so«, gab Kim zu. »Das Problem ist nur, daß ich weiß, wie die Geschichte ausgegangen ist.«
»Wir wissen nach wie vor nicht, ob sie wirklich gehängt wurde«, erinnerte Edward sie.
»Da hast du natürlich recht«, stimmte Kim ihm zu. »Aber in dem Brief wird zumindest ein Aspekt erwähnt, der sie in Mißkredit gebracht und zum Ziel von Hexereibeschuldigungen gemacht haben könnte. Ich weiß, daß es früher nicht gerne gesehen
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