Das Experiment
stammten fast alle aus dem späten achtzehnten Jahrhundert. In der vagen Hoffnung, daß in dem wilden Chaos vielleicht doch irgendeine Ordnung herrschen könnte, begann sie wahllos Schubladen herauszuziehen und im Stichprobenverfahren nach älteren Dokumenten zu suchen. Als sie die oberste Schublade eines Schrankes öffnete, der dicht neben der Kellertür stand, wurde sie schließlich fündig.
Zunächst erregten ein paar lose herumliegende Seefrachtbriefe ihre Aufmerksamkeit, die allesamt aus dem siebzehnten Jahrhundert stammten; sie waren noch älter als die Dokumente, die sie Edward am Samstag gezeigt hatte. Plötzlich hielt sie einen ganzen Stapel Seefrachtbriefe in den Händen, die mit einer Schnur zusammengebunden waren. Die Schrift war klar und von außerordentlicher Eleganz; auf jedem Frachtbrief war ein Datum vermerkt. In den meisten Papieren ging es um die Beförderung von Pelzen, Holz, Fisch, Rum, Zucker und Getreide. Doch mitten in dem Stapel entdeckte sie einen Briefumschlag, der an Ronald Stewart adressiert war. Die Adresse war eindeutig ineiner anderen Handschrift geschrieben; sie war krakelig und ungleichmäßig.
Kim ging mit dem Brief in den Flur, wo die Beleuchtung etwas besser war. Die Schrift ließ sich nur mühsam entziffern. Am oberen Rand stand das Datum: 21. Juni 1679.
Sehr geehrter Herr,
seit der Ankunft Ihres Briefes sind inzwischen einige Tage vergangen. In dieser Zeit haben meine Familie und ich so manche Unterhaltung über Ihre Zuneigung zu unserer geliebten Tochter Elizabeth geführt, die ein sehr lebendiges Mädchen ist. Wenn es denn Gottes Wille ist, werden wir Ihnen unsere Tochter unter der Bedingung zur Heirat geben, daß Sie mir Arbeit geben und meine Familie nach Salem Town umsiedeln kann. Hier in Andover herrscht große Unruhe wegen der Indianerüberfälle, die eine Gefahr für unser aller Leben darstellen.
Ihr untertänigster Diener,
James Flanagan
Nachdenklich steckte Kim den Brief wieder in den Umschlag. Was sie gerade gelesen hatte, bestürzte sie. Sie hielt sich eigentlich nicht für eine Feministin, doch der Inhalt dieses Briefes kränkte sie und weckte ihren Kampfgeist. Elizabeth war wie ein Stück Vieh verkauft worden. Auf einmal fühlte Kim sich ihrer Vorfahrin noch stärker verbunden.
Sie kehrte in das enge Kellerabteil zurück und legte den Brief auf den Schrank, in dem sie ihn gefunden hatte. Dann nahm sie sich noch einmal die Schublade vor. Zeit und Raum vergessend, studierte sie jedes Blatt Papier. Sie fand zwar noch den einen oder anderen Frachtbrief aus dem siebzehnten Jahrhundert, doch weitere Briefe entdeckte sie nicht. Trotz dieses Mißerfolgs machte sie sich unverzagt über die nächste Schublade her. Plötzlich wurde sie von einem Geräusch aufgeschreckt: über ihr waren deutlich Schritte zu hören.
Kim lief es kalt über den Rücken. Die unbestimmte Angst, die sie vorhin gepackt hatte, überwältigte sie. Diesmal grauste es ihrnicht nur vor dem großen, leeren Haus; ihre Angst vermischte sich mit Schuldgefühlen, weil sie in die verbotene und leidgeprüfte Vergangenheit ihrer Vorfahren eingedrungen war. Ihre Phantasie drohte mit ihr durchzugehen. Als sie die Schritte genau über sich hörte, glaubte sie auf einmal die Umrisse eines schauderhaften Geistes zu erkennen. Einen Augenblick lang hielt sie es sogar für möglich, daß ihr toter Großvater zurückgekehrt war, um sie für ihren unverschämten und dreisten Versuch zu strafen, die gut gehüteten Geheimnisse der Familie ans Tageslicht zu zerren.
Als die Schritte verhallten, war wieder das Knarren und Ächzen des alten Hauses zu hören. Zwei Gedanken schossen ihr durch den Kopf: Sollte sie die Flucht ergreifen, oder war es klüger, sich hinter den Schränken und Regalen zu verstecken? Unfähig, eine Entscheidung zu treffen, schlich sie langsam zur Tür der kleinen Zelle. Am Türpfosten blieb sie stehen und lugte vorsichtig um die Ecke; sie konnte den langen Flur bis zur Treppe überblicken. Plötzlich hörte sie das laute Knarren der Kellertür; es gab keinen Zweifel, daß jemand sie gerade aufgetreten hatte.
Gelähmt vor Angst verharrte Kim hilflos an ihrem Platz und mußte mit ansehen, wie eine Gestalt die Stufen hinabstieg; sie trug schwarze Schuhe und eine dunkle Hose. Auf halbem Wege verharrte die Gestalt einen Moment und beugte sich ein wenig nach vorne. Von ihrem Platz aus konnte Kim nur einen von hinten beleuchteten Kopf mit einem konturenlosen Gesicht erkennen.
»Kim?«
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