Das Experiment
aber die Chance hab’ ich wohl verpaßt«, fuhr Kim fort. »Ich habe mich schon als Kind immer sehr für Kunst und Mode interessiert. Weil ich so ein Kunstnarr war, wurde ich auf der High-School für einen ziemlich seltsamen Vogel gehalten. Kein Wunder, daß ich nie zu der Clique gehörte, die damals gerade ›in‹ war.«
»Mir ging es genauso«, sagte Edward.
Kim ließ den Motor an, wendete und fuhr in Richtung Burg.
»Warum bist du eigentlich nicht Innenarchitektin geworden?« wollte Edward wissen.
»Meine Eltern haben es mir ausgeredet«, erklärte Kim. »Vor allem mein Vater.«
»Das verstehe ich nicht«, warf Edward ein. »Am Freitag hast du mir doch erzählt, daß du nie ein besonders gutes Verhältnis zu deinem Vater gehabt hast.«
»Das stimmt ja auch«, erwiderte Kim. »Aber er hat trotzdem großen Einfluß auf mich gehabt. Ich habe mir immer die Schuld daran gegeben, daß wir kein besseres Verhältnis zueinander gefunden haben. Und deshalb habe ich immer versucht, mich nach seinen Wünschen zu richten. Es war sein Wunsch, daß ich Krankenschwester oder Lehrerin werden sollte; mit Innenarchitektur konnte er nichts anfangen. Also bin ich Krankenschwester geworden.«
»Väter können ihre Kinder ganz schön unter Druck setzen«, sagte Edward. »Ich wollte es meinem Vater auch immer recht machen. Völlig verrückt – wenn ich heute darüber nachdenke. Ich hätte ihn einfach ignorieren sollen. Er hat mich immer damit aufgezogen, daß ich gestottert habe; außerdem hätte er lieber einen sportlichen Jungen gehabt. Ich muß eine herbe Enttäuschung für ihn gewesen sein.«
Sie hatten die Burg erreicht, und Kim parkte neben Edwards Wagen. Edward war schon im Begriff auszusteigen, doch dann ließ er sich noch einmal in den Sitz zurückfallen.
»Hast du eigentlich schon etwas gegessen?« fragte er.
Kim schüttelte den Kopf.
»Ich auch noch nicht«, sagte Edward. »Was hältst du davon, nach Salem zu fahren und ein nettes, kleines Restaurant zu suchen?«
»Eine prima Idee«, sagte Kim.
Sie fuhren los, und nachdem sie eine Zeitlang geschwiegen hatten, sagte Kim: »Ich bin inzwischen davon überzeugt, daß meine Eltern daran schuld sind, daß ich auf dem College so durchhing. Bestimmt lag es an dem schwierigen Verhältnis, das wir zueinander hatten. Glaubst du, das war bei dir auch so?«
»Daran besteht nicht der geringste Zweifel«, erwiderte Edward.
»Es ist wirklich erstaunlich, wie wichtig die Selbstachtung für einen Menschen ist«, bemerkte Kim. »Und ich finde es beängstigend, wie leicht Eltern das Selbstbewußtsein ihrer Kinder zerstören können.«
»Das von Erwachsenen ist allerdings auch schneller ruiniert, als man denkt«, sagte Edward. »Und wenn erst einmal das Selbstbewußtsein zerstört ist, verändert sich das ganze Verhalten eines Menschen; er kommt sich vollkommen wertlos vor. Und dann beginnt ein Teufelskreis, den man sogar biochemisch nachweisen kann. Da sind wir übrigens wieder bei einem Argument angelangt, das entschieden für die Einnahme von Medikamenten spricht: Man muß den Teufelskreis durchbrechen.«
»Reden wir über Prozac?« fragte Kim.
»Indirekt, ja«, erwiderte Edward. »Prozac wirkt bei manchen Patienten positiv auf das Selbstwertgefühl.«
»Hättest du während deiner Collegezeit Prozac genommen, wenn es damals schon erhältlich gewesen wäre?« wollte Kim wissen.
»Vielleicht«, gestand Edward. »Wahrscheinlich hätte ich dann völlig andere Erfahrungen gemacht.«
Kim sah kurz zu Edward hinüber. Er lächelte. Sie hatte den Eindruck, daß er ihr gerade etwas sehr Persönliches erzählt hatte.
»Ich möchte dich etwas fragen«, begann sie vorsichtig. »Du brauchst mir nicht zu antworten, wenn du nicht willst. Hast du schon einmal Prozac genommen?«
»Wieso sollte ich dir darauf keine Antwort geben?« entgegnete Edward. »Ja, vor ein paar Jahren habe ich eine Zeitlang Prozac geschluckt. Nach dem Tod meines Vaters hatte ich schwere Depressionen. Da wir eigentlich nie ein besonders enges Verhältnis hatten, hat mich diese heftige Reaktion völlig überrascht. Ein Kollege hat mir damals Prozac empfohlen, und ich hab’s ausprobiert.«
»Sind die Depressionen dadurch weggegangen?« wollte Kim wissen.
»Ja«, sagte Edward bestimmt. »Nicht sofort, aber allmählich. Das Interessanteste war aber, daß ich ganz unerwartet einen regelrechten Energieschub hatte; ich war plötzlich ein richtig entschlußfreudiger Mensch. Damit hatte ich nicht im Traum gerechnet,
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