Das Feenorakel
ja schließlich nicht der böse Wolf und sie auch ganz gewiss kein naives Rotkäppchen.
Der Wolf neben ihr wirkte in diesem Augenblick nicht so, als ob er sie fressen wollte. Er hatte sich verschluckt und hustete, bis ihm Tränen über das Gesicht liefen. «Danke!» Als er auf das Taschentuch sah, das sie ihm gegeben hatte, verharrte er für die Dauer eines Wimpernschlags mitten in der Bewegung. Schließlich fuhr er mit dem Daumen über die kunstvolle Stickerei in einer der vier Ecken. Julens Monogramm. Anstatt sich die Augen zu trocknen, gab er es ihr zurück und wischte sich stattdessen schnell mit seinem Ärmel übers Gesicht. «Wie hast du Julen eigentlich kennengelernt?» Erwartungsvoll sah er sie an.
Wollte Alva nicht lügen, war die Frage nicht leicht zu beantworten, und so entschied sie sich, ihm einfach die Wahrheit zu sagen. Bevor er mir die ganze Geschichte mit irgendwelchen Tricks aus der Nase zieht. «Ich glaube, alles fing damit an, dass er im Baum vor meinem Balkon saß.»
Erik hob die Hände. «Schon gut. Den Rest will ich gar nicht wissen!» Er lachte. «Aber du hast eine gute Entscheidung getroffen, er ist wahrscheinlich der Netteste der ganzen Bande.»
«Wie meinst du das?»
Sofort wurde er ernst. «Vertrau ihm. Julen ist die beste Lebensversicherung, die du dir wünschen kannst.» Kaum hatte er den Satz beendet, blieb er plötzlich stehen und hob den Kopf. Dabei wirkte er beinahe wie ein Jagdhund, der Witterung aufgenommen hatte.
Seine Anspannung übertrug sich sofort auf Alva. «Was ist?»
Erik lauschte noch eine Weile, dann wandte er sich ihr zu. «Willst du lieber deine Ruhe vor dem Auftritt oder möchtest du in einer Menschenmenge baden?»
«Wovon sprichst du?» Seine Gedankensprünge überforderten sie. Hoffentlich ist Julen bald hier. Doch plötzlich hörte sie Mädchen kreischen, viele Mädchen. Von den anderen Bandmitgliedern war nichts mehr zu sehen. «Ist es das, was ich denke?» Sie wartete seine Antwort nicht ab. «Die Antwort ist definitiv: Ruhe .»
«Dann komm ...»
Er nahm sie an der Hand und zog sie in eine Sackgasse. «Hinter der Mauer steht euer Bus. Wenn du drüberkletterst, kann ich dich unauffällig hineinschleusen.»
Sofort stemmte sie ihre Beine in den Boden und weigerte sich, einen Schritt weiterzugehen. «Niemals!»
Seine Nasenflügel zitterten, als könne er ihre Angst riechen. Täuschte sie sich oder strahlten seine Husky-Augen intensiver? Alva blieb wenig Zeit, darüber nachzudenken, Erik warf sie einfach über seine Schulter.
Na, toll! Jetzt werde ich entführt , waren ihre letzten Gedanken, bevor der Boden sich rasend schnell entfernte. Ein kurzer Stopp. Dann ging es mit dem Gefühl, ihr Hinterkopf müsste jeden Augenblick an die Mauer schlagen, wieder abwärts. Der Entführer federte ihre gemeinsame Landung zum Glück gekonnt ab und plötzlich stand sie wieder auf ihren eigenen Füßen. «Wow! Das war sportlich!» Sie rieb sich mit der Hand über ihren Nasenrücken, und bevor sie darüber nachdenken konnte, wie sie jetzt in den Bus hineingelangen sollte, öffnete sich die Tür einen Spaltbreit und Alastair zog sie hinein.
«Erik?» Ihr Begleiter winkte ihr nur zu und ging davon.
«Wie hat er geschafft, dich ungesehen durch die Menge zu schmuggeln?»
Mit gerunzelter Stirn drehte sie sich noch einmal um. «Wir sind da über die Mauer ge..., ähm, ...klettert.» Als sie auf die Wand hinter sich sah, glaubte sie selbst nicht, was sie dem armen Alastair weismachen wollte. Verlegen lächelnd lief sie die Treppe hinauf. «Besser, wenn ich meinen Zeitvorteil nutze, bevor die anderen kommen.»
Aus den oberen Fenstern konnte sie den Eingang des Clubs sehen. Mindestens hundert Fans drängten sich davor. Blitzlichter flammten auf und mittendrin standen ihre Freunde zusammen mit den Midnight Fairytales und bemühten sich vergeblich, gute Miene zu dieser Überraschung zu machen. Zum Glück erschienen jetzt ein paar Männer, deren Kleidung sie als Sicherheitsleute auswies, und brachten recht erfolgreich Ordnung in das Chaos.
Froh darüber, dass die Scheiben von außen keinen Einblick gewährten, zog sich Alva rasch aus, wühlte in ihrer Tasche und zog eine neue Packung mit blickdichten schwarzen Strumpfhosen heraus. Als sie das empfindliche Material vorsichtig über ihre Beine rollte, wünschte sie sich ins luxuriöse Bad des Hotels zurück, in dem sogar ein Rasierer für die absoluten Notfälle einer Frau zu finden gewesen war, den sie selbstverständlich auch
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