Das Feenorakel
ihre Hand ab. Sie holte tief Luft und sagte vernehmlich: «Bitte entschuldigen Sie!» Konzentriert spürte sie ihrer Stimme nach, bis sie den richtigen Ton entdeckte. Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht.
Chris trat einen Schritt beiseite, als wollte sie Alva die Bühne überlassen. Vielleicht hatte sie aber einfach nur Angst vor dem, was nun kommen würde.
Alva erging es nicht anders, aber ihr fielen zum Glück einige Zeilen aus Shakespeares Sommernachtstraum ein:
Drum lass Geduld uns durch die Prüfung lernen,
Weil Leid der Liebe so geeignet ist
Wie Träume, Seufzer, stille Wünsche, Tränen,
Der armen kranken Leidenschaft Gefolge.
Die Wahrheit zu sagen, halten Vernunft und Liebe heutzutage nicht viel Gemeinschaft.
Schade, dass ehrliche Nachbarn sie nicht zu Freunden machen wollen!
Wie kann das Glück so wunderlich doch schalten?
Sie hätte beinahe laut gelacht, als sie merkte, dass ihr Trick funktionierte, und sprach weiter: Ein jedes Ding muss Zeit zur Reife haben ...
Sobald sie sicher war, dass selbst der Koch, der seinen Kopf samt Mütze durch die niedrige Durchreiche gesteckt hatte, um zu sehen, was im Restaurant vor sich ging, ihr gebannt lauschte, verbeugte sie sich mit einer altmodischen Geste. «Ich hoffe, unser kleiner Ausflug in die Klassik hat Sie nicht gestört.» Das leere Brotkörbchen vom Nachbartisch in der Hand ging sie durch die Tischreihen: «Einen Penny für Ihre Gedanken, einen Sixpence für die Musen!» Die Gäste applaudierten und zeigten sich außerordentlich großzügig.
«Wenn es mal mit der Band nicht mehr funktioniert, dann kommen wir damit allemal durch!» Am Ende zählte sie ihre Einnahmen und drückte sie Chris in die Hand.
Die Fee sträubte sich und versuchte, das Geld zurückzugeben. «Du hast vielleicht Nerven!»
Alva wehrte den Versuch ab. Von ihrer guten Laune war nichts mehr zu spüren. «Habe ich das?» Fast hätte sie ausgespuckt. «Und was ist mit dir? Ich musste mühsam lernen, wer ich bin und ... was!» Ihre Stimme drohte zu brechen. «Erzähl mir nicht, dass du neu im Geschäft bist. Wahrscheinlich kennst du wie Julen die Feenwelt seit Hunderten von Jahren. Aber im Gegensatz zu dir hat er mir von Anfang an die Wahrheit gesagt und geholfen hat er mir auch!» Am liebsten hätte sie mit dem Fuß aufgestampft. Erst der Ärger mit Julen und dann musste sie feststellen, dass Chris sie die ganze Zeit an der Nase herumgeführt hatte. Es war, als würde ihr das Schicksal die Freude an der einzigartigen Chance nicht gönnen, die es ihr mit dem Auftritt beim Open Air gegeben hatte.
Und nun tauchte auch noch Tom auf, der ihr mit seiner ewig schlechten Laune allmählich gewaltig auf die Nerven ging. «Wo bleibt ihr denn? Wir wollen zum Flughafen.»
«Wir sprechen uns noch!», fauchte sie Chris an, bevor sie Tom fragte: «Und was ist mit den Fairytales ?»
«Die kommen später nach. Los, Mädels. Beeilung!», sagte er über die Schulter gewandt und ging mit langen Schritten voran.
Während der Fahrt zum Flughafen sprach Alva kein Wort. Sie hatte sich ganz hinten in den Kleinbus gesetzt, den Jon organisiert hatte. Die Arme vor der Brust verschränkt, die Ohrhörer eingestöpselt wollte sie nichts anderes als ihre Ruhe. Julen war nicht aufgetaucht und sie musste sich auf die Lippen beißen, um die anderen nicht zu fragen, ob sie ihn irgendwo gesehen hätten. Wenn er nicht mitkommen will, dann lässt er es eben bleiben! Ganz glaubte sie sich ihre Gleichgültigkeit aber selbst nicht.
Schon der Gedanke, er könnte es ernst damit gemeint haben, keinen Fuß nach Avebury setzen zu wollen, trieb ihr Tränen in die Augen. Und wenn er doch recht hatte und es dort zu gefährlich für sie war? Auch egal! Sie konnte schließlich nicht immer weglaufen. Ihr fiel eine Geschichte ein, die sie kürzlich gelesen hatte. Da war einem Mann gewahrsagt worden, zu welcher Stunde und an welchem Ort er dem Tod begegnen würde. Der Mann packte seine Sachen und floh ans andere Ende der Welt. Als er dort aus dem Flugzeug stieg, wurde er auf dem Rollfeld von einem Gepäckwagen überfahren.
Vielleicht würde es ihr ähnlich ergehen, wenn sie sich ihrem Schicksal nicht stellte. Die Prophezeiung für den Mann in dieser Geschichte war nicht ganz genau gewesen. Wer konnte schon sagen, ob das Schicksal, das sich in ihrem Fall auch eher in Andeutungen erging, als dass es eine konkrete Warnung ausgesprochen hatte, sie nicht ebenfalls an der Nase herumführte?
Während des Check-ins sprach sie nicht mehr,
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