Das Feenorakel
bei dem jeweiligen Statthalter des Distrikts, in dem er sich aufhalten wollte, zu melden. Ein System, das sich niemals vollständig etabliert hatte und von vielen unterlaufen wurde. Solange man keinen Ärger machte, handhabten die jeweiligen Verantwortlichen diese Regelung zumeist großzügig. Da ihren Spitzeln ohnehin kaum etwas entging, wussten sie auch ohne diesen Höflichkeitsbesuch über das Kommen und Gehen in ihrem Verwaltungsdistrikt recht gut Bescheid. Einige Statthalter griffen dennoch hart durch und versuchten selbst Durchreisende zu einem Antrittsbesuch zu zwingen, andere ließen verdächtige Besucher überwachen und wurden erst aktiv, wenn diese gegen die allgemein verbindlichen Regeln der Vampirgemeinde verstießen. Dazu gehörte beispielsweise das fortgesetzte Beißen von Sterblichen und auf jeden Fall das Töten eines Opfers aus reinem Vergnügen oder Nachlässigkeit sowie alle sonstigen Verhaltensweisen, die ihre geheime Welt in Gefahr bringen konnte.
Ein Vengador wie Julen war zwar theoretisch von dieser Regel ausgenommen, aber zum einen gebot es die Höflichkeit, sich dennoch daran zu halten, und zum anderen liefen in der Machtzentrale eines Distrikts alle Fäden zusammen, und es war immer gut, sich über ein neues Einsatzgebiet umfassend zu informieren.
Kieran hatte das Treffen arrangiert, und wie erwartet dauerte es nicht lange, bis Julen die Nachricht erreichte, dass der örtliche Statthalter ihn empfangen wollte, und so machte er sich auf den Weg.
Es gab für ihn keinen Grund, seinen Auftrag näher zu erläutern, dennoch entschied er sich dafür zu betonen, der Gemeinde werde aus seiner Anwesenheit kein Schaden erwachsen. Dass er als Babysitter unterwegs war, gehörte nicht zu der Art von Information, die er freiwillig zu teilen gedachte.
Es war alles gesagt, als das Telefon seines Gastgebers klingelte. Dieser bedeutete ihm, einen Augenblick zu warten, und nahm das Gespräch an.
Die Höflichkeit hätte verlangt, dass Julen das kurze Telefonat einfach ignorierte. Die Stimme der Anruferin elektrisierte ihn jedoch. Alva. Während er noch darüber nachdachte, ob hier Zufall oder Schicksal die Hand im Spiel hatte, war das Gespräch bereits beendet. Der Vampir, der ihm gegenübersaß, mochte zwar älter als Julen sein, er war jedoch nicht talentiert genug, um hinter Julens perfekte Fassade sehen zu können, und dafür war er in diesem Augenblick dankbar.
Während sie zum Abschied Höflichkeiten austauschten, brannte er darauf herauszufinden, warum Alva sich ausgerechnet hier um einen Job bemüht hatte.
«Wenn ich irgendetwas tun kann ...», riss ihn der Statthalter wenig später aus seinen Überlegungen.
«Danke. Ich glaube, das wird nicht notwendig sein. Der Auftrag wird möglicherweise eine Weile dauern, aber ich rechne nicht mit Schwierigkeiten.»
In letzter Zeit hatte sich seine Fähigkeit, andere Vampire lesen zu können, dank eines intensiven Trainings deutlich verbessert. Er war in dieser Disziplin nicht unbedingt das, was man ein Naturtalent nennen würde, und er verließ sich niemals ausschließlich auf diese kurzen geraubten Informationen. Dennoch riskierte Julen einen kurzen Blick in die Gedanken seines Gegenübers, konnte jedoch, wie erwartet, nichts Verdächtiges darin entdecken.
Ohne Umwege kehrte er nach dem Treffen in seine provisorische Unterkunft zurück. Natürlich folgte ihm einer von Richards Leuten, denn kein Statthalter hatte gerne einen aktiven Vengador in seinem Revier, ohne dessen Auftrag zu kennen. Mühelos gelang es Julen, dem jungen Vampir einen falschen Gedanken einzupflanzen, wie er es von seinem Lehrer gelernt hatte. Der heimliche Beobachter vor seinem Haus würde am nächsten Abend notfalls sogar schwören, Julen hätte sein Appartment in dieser Nacht nicht mehr verlassen.
Lächelnd öffnete er danach ein Portal zur Zwischenwelt und kehrte zu dem Fabrikgelände zurück, das der Statthalter zu seinem Hauptquartier auserkoren hatte. Der Schornstein, der mitten auf dem Vorplatz des Clubs stand, gefiel ihm und er konnte nicht widerstehen. Im Nu hatte er den luftigen Hochsitz erklommen und wartete darauf, was geschehen würde. Dank ihrer besonderen Verbindung wusste er, dass Alva aufgeregt war. Doch ihre Erregung wirkte positiv und hatte sehr wahrscheinlich damit zu tun, dass sie sich auf diese überraschende Gelegenheit zu einem Vorstellungsgespräch freute. Während er das Telefonat belauscht hatte, war ihm nicht entgangen, wie verwundert sie darauf reagiert
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