Das Feenorakel
einfach.
Als sie das Geschäft eine halbe Stunde später verließ, war ihre Laune, auch ohne ein Medikament genommen zu haben, bestens. Sie hatte einen genialen Lippenstift entdeckt und dazu noch eines dieser Glätteisen gekauft, das sie immer schon hatte haben wollen, um ihren Haaren zu noch mehr Glanz zu verhelfen. Dazu gab es noch einen Aufsatz, mit dem sie kleine Wellen in die Frisur zaubern konnte. Im Club hatte sie einige Mädchen gesehen, die sich mithilfe dieses Instruments eine herrlich üppige Mähne im Stil der achtziger Jahre geschaffen hatten. Tom würde der Schlag treffen, für extremes Styling hatte er nicht viel übrig. Sie wunderte sich sowieso, dass er in einem Club wie dem Amnesia verkehrte.
Als sie nach Hause kam, waren ihre nachtaktiven Mitbewohner bereits ausgeflogen. Schnell nahm sie das ausgeborgte Kleid, um es möglichst unauffällig wieder zurückzuhängen. Die Instrumente in Chris’ Zimmer erinnerten sie an ihr Cello. Darauf ungestört spielen zu können wäre der krönende Abschluss eines wunderbaren Tages.
Inzwischen war es fast dunkel und sie entzündete die dicken Kerzen auf den Leuchtern, die sie von Brigitta geschenkt bekommen hatte. Die Gardinen wehten im Abendwind und Alva schloss die Augen. Dann begann sie zu spielen. Es war nur eine kleine Melodie, doch je tiefer sie in der Musik versank, desto mehr neue Variation des Themas fielen ihr ein. Und der melancholische Gesang der Geschöpfe des Waldes, aus denen einst ein begnadeter Instrumentenbauer ihr Cello geschaffen hatte, schwebte wie ein zartes Band zur Balkontür hinaus.
Erst viel später legte sie den Bogen beiseite und seufzte. Sie hatte nie besser gespielt und war selbst überrascht von ihrer Kreativität. Ihr Musiklehrer schwor, dass in ihr ein großes Talent schlummerte und sie nur härter arbeiten müsse, um es zu erwecken. Zehntausend Stunden üben, danach kommt der Durchbruch , hatte er immer gesagt.
Heute glaubte sie zum ersten Mal, dass er recht haben könnte, aber bis dahin war es noch ein weiter Weg.
Wenig später hatte sie die Kerzen ausgeblasen und lag im Bett. Es schien ihr, als würde die Musik immer noch im Raum hängen und sie mit ihren zarten Tönen in den Schlaf singen. Und dann saß er plötzlich da: Die Beine lang ausgestreckt, die Fußknöchel übereinandergelegt und die Arme vor der Brust verschränkt. Ihr Traummann.
Nein, korrigierte sie sich, der Mann aus ihren Träumen. Warum sitzt du auf meinem Stuhl? Die Frage klang so sehr nach dem Märchen Schneewittchen , dass sie unwillkürlich lächeln musste. Immerhin schlief er nicht in ihrem Bett chen . Als er nicht antwortete, setzte sie sich auf. «Also?»
Der Mann legte einen Finger auf die Lippen, beugte sich vor und sah sie verschwörerisch an. «Hörst du es nicht?»
Alva lauschte. «Nein! Was denn?»
Er lehnte sich wieder zurück. «Es regnet.»
«Wenn alle, denen der Regen nicht gefällt, hier in meinem Zimmer Unterschlupf suchen würden, wäre es ziemlich eng.»
Mit einer Handbewegung zeigte er in den Raum. «Siehst du außer mir noch jemanden?»
«Die meisten Menschen besitzen wahrscheinlich einen Schirm.» Alva freute sich über dieses skurrile Gespräch.
Die Arme wieder vor der Brust gekreuzt lehnte er sich zurück. «Welch ein Glück, auf diese Weise bleibt für mich ein freier Stuhl und die bezaubernde Gesellschaft einer verschlafenen Fee.»
Wann er die Kerzen entzündet hatte, wusste sie nicht mehr, aber es war eine gute Idee gewesen, denn in ihrem warmen Schein konnte sie sein Gesicht deutlich sehen und die Vermutung ihrer ersten Begegnung bestätigte sich. Dieser Mann musste ein antiker Gott sein, nein ein nordischer. Zumindest klang sein kaum hörbarer Akzent nach Fjorden, Schlittenhunden und einer bizarren Landschaft jenseits des Polarkreises.
Sein Lächeln brachte sie wieder in die regnerische Sommernacht Englands zurück. Immerhin nahm er es ihr nicht übel, dass sie ihn von Kopf bis Fuß gemustert hatte.
«Glück muss man sich verdienen», sagte sie ein bisschen streng, vielleicht weil es ihr peinlich war, beim Starren erwischt worden zu sein. Wie ist dein Name?
«Ist das deine eigene Lebensweisheit?»
Natürlich war es das nicht. Und noch schlimmer, es war ihre ungeliebte Stiefgroßmutter, von der sie diesen Satz gefühlte zehntausend Mal gehört hatte.
«Julen.»
«Was?» Woher hatte er wissen können, was sie ihn fragen wollte? «Ist das alles?» Selbst in ihren Ohren klang die Frage ziemlich schnippisch und Alva
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