Das Fest der Zwerge
und eilte zu Albrecht. »Bist du schwer verletzt?«
Er schüttelte mit zusammengebissenen Zähnen den Kopf. »Es geht. Aber ich hätte nichts dagegen, wenn du mich verbinden könntest.«
»Das wird gleich geschehen!« Audefleda hatte ihre Fassung wiedergefunden und wies die Mägde an, Verbandszeug zu holen. Danach half sie Bärbel, Albrecht und ihrem Bruder die Oberbekleidung auszuziehen, und begann, die beiden Männer zu verbinden.
Bärbel sah das weiche Licht, das dabei von ihren Händen in die Leiber der Verletzten strömte, und beobachtete staunend, wie deren Wunden zu bluten aufhörten und sich schlossen.
»Du könntest mir helfen, denn schließlich besitzt du dieselbe Gabe wie ich«, schlug Audefleda vor.
Bärbel nickte verwirrt, kümmerte sich dann aber um ihren Mann, der unter ihrer sanften Berührung sichtlich kräftiger wurde und auch den Becher Met nicht ablehnte, den ihm eine der Mägde reichte.
*
Es wurde ein denkwürdiges Weihnachtsfest. Bärbel und Albrecht vergaßen, dass sie eigentlich nicht dazugehörten, und lauschten voller Andacht der Predigt des Engländers, der von der Geburt des Herrn und den Tagen von Bethlehem berichtete.
Wohl selten war der Weihnachtstag so inbrünstig gefeiert worden wie hier, und als es Zeit wurde, ins Bett zu gehen, bedauerte Bärbel, dass das Fest zu Ende war. Albrecht war jedoch froh, sich hinlegen zu können. Seine Verletzungen schmerzten noch immer, und der ungewohnte, aber wohlschmeckende Met hatte ihn müde gemacht.
Audefleda brachte beide zurück in das Haus, in dem sie Albrecht verarztet hatte, und befahl ihren Mägden, die besten Pelze für ihre Gäste zu holen. Während Albrecht sich hinlegte und auch rasch einschlief, blieb Bärbel auf der Bettkante sitzen und sah ihre Gastgeberin fragend an.
»Willst du mir nicht erklären, was hier geschehen ist?«
Ihre Gastgeberin wirkte mit einem Mal scheu und schuldbewusst. »Du darfst aber nicht schlecht von mir denken!«
»Das werde ich nicht«, versprach Bärbel.
Audefleda atmete tief durch und fasste ihre Hand. »Es war viele Jahre vor deiner Zeit, als der englische Missionar in unser Dorf kam und zu predigen begann. Ich war bereits Christin, doch mein Gemahl, mein Bruder und deren Männer lehnten das Christentum ab. Um sie zu überzeugen, lud ich Winfried ein, das Julfest – oder wie man bei euch sagt, das Weihnachtsfest – mit uns zu feiern. Ich hoffte, er könnte meine Verwandten von der Kraft des Christentums überzeugen. Doch diesem Thorismund, der an jenem Tag zu uns gekommen war, gelang es, die Männer gegen Winfried aufzuhetzen und meinen Bruder so weit zu bringen, dass er den frommen Mann erschlug.«
Bärbel wollte etwas einwenden, doch Audefleda bat sie zu schweigen und setzte ihren Bericht fort.
»Winfried erkannte im Sterben, wer der wahre Schuldige war, und er verfluchte ihn und uns, dieses Weihnachtsfest Jahr für Jahr erneut durchleben zu müssen, bis es einem Menschen gelingen würde, den Mord zu verhindern. Doch dazu bedurfte es jemanden mit einer starken inneren Kraft. Ich besitze ein wenig von dieser Gabe, und daher gelang es mir, mich immer wieder am Weihnachtstag aus dem Bannkreis der Burg zu entfernen und nach einem Retter zu suchen. Doch es hat Jahrhunderte gedauert, bis ich jemanden fand, der stark genug dazu war. Das warst du.«
Bärbel dachte in diesem Augenblick nicht an Albrecht, sondern sah ihre Gastgeberin fragend an. »Seid ihr jetzt erlöst?«
Audefleda nickte. »Wir sind es! Endlich können wir in unsere Zeit zurückkehren und unser Leben an dem Morgen beginnen, der auf das Weihnachtsfest gefolgt ist. Doch jetzt schlafe. Wenn du aufwachst, werden Jahrhunderte zwischen uns liegen.« Tränen traten ihr in die Augen, und sie umarmte Bärbel ein letztes Mal. Dann wandte sie sich ab, blieb aber an der Tür stehen, als habe sie noch etwas vergessen.
»Auch wenn die Zeiten uns trennen, so fließt doch in uns beiden das gleiche Blut!« Damit ging sie, und Bärbel brauchte einen Augenblick, bis sie voller Staunen begriff, dass sie ihrer eigenen Ahnfrau begegnet sein musste. Sie wollte Audefleda folgen, doch da glaubte sie eine Stimme zu hören, die ihr riet, sich nun hinzulegen.
»Es wird wohl das Beste sein«, murmelte sie bedauernd, und schlüpfte zu Albrecht unter die Felle. Es dauerte jedoch eine ganze Weile, bis der Schlaf sie holte, und sie schlummerte über der Überlegung ein, ob sie mit der Rettung ihrer Ahnin erst dafür gesorgt haben mochte, dass sie
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