Das Fest des Ziegenbocks
die gleichen Fragen stellten, die man ihnen in El Nueve und La Victoria gestellt hatte. Ein paar Stenotypisten schrieben ihre Antworten mit. Nur subalterne Offiziere trieben sich in der Umgebung herum. Von den Chefs – Ramfis, Abbes García, Pechito Leon Estévez, Pirulo Sánchez Rubirosa – tauchte keiner auf, solange die zähe Zeremonie dauerte. Man gab ihnen nichts zu essen, nur ein paar Gläser Sprudel, am Mittag. Der Nachmittag hatte begonnen, als sie den rundlichen Direktor von La Victoria, Major Américo Dante Minervino, auftauchen sahen. Er kaute mit einer gewissen Nervosität an seinem Schnurrbart, und sein Gesicht war düsterer als gewöhnlich. Mit ihm kam ein korpulenter Neger mit der platten Nase eines Boxers, der eine Maschinenpistole über der Schulter trug und einen Revolver zwischen Körper und Gürtel. Sie ließen sie in den Hundefänger steigen.
»Wohin fahren wir?« fragte Pedro Livio den Gefängnisdirektor.
»Zurück nach La Victoria«, sagte dieser. »Ich bin gekommen, um euch persönlich hinzubringen, damit ihr euch nicht unterwegs verirrt.«
»Was für eine Ehre«, sagte Pedro Livio. Der Major setzte sich ans Steuer und der Neger mit dem Boxergesicht neben ihn. Die drei Wachsoldaten, die sie im hinterenTeil des Hundefängers eskortierten, waren so jung, daß sie aussahen wie gerade erst rekrutiert. Man sah, daß sie angespannt waren durch die Last der Verantwortung, auf so wichtige Häftlinge aufzupassen. Außer mit Handschellen fesselte man sie an den Knöcheln mit Stricken, die etwas locker waren und ihnen erlaubten, kleine Schritte zu tun.
»Was zum Teufel sollen diese Stricke?« protestierte Tunti Cá-ceres.
Einer der Wächter zeigte auf den Major und hob zugleich den Finger an den Mund: »Halt die Klappe.« Während der langen Fahrt begriff Salvador, daß sie nicht nach La Victoria zurückfuhren, und sah den Gesichtern seiner Gefährten an, daß auch sie es ahnten. Sie verharrten stumm, einige mit geschlossenen Augen, andere mit weit offenen, brennenden Pupillen, als versuchten sie, die Metallwände des Bereitschaftswagens zu durchdringen, um herauszufinden, wo sie waren. Er versuchte nicht, zu beten. Seine Unruhe war so groß, daß es vergeblich wäre. Der Herr würde schon verstehen. Als der Wagen anhielt, hörten sie das Meer, das sich am Fuß einer hohen Klippe brach. Die Wächter öffneten die Tür des Wagens. Sie befanden sich an einem verlassenen Ort mit roter Erde und spärlichen Bäumen, der ein Felsvorsprung zu sein schien. Die Sonne schien noch immer, aber sie war schon im Abstieg begriffen. Salvador sagte sich, daß Sterben eine Form sei, auszuruhen. Was er jetzt spürte, war eine ungeheure Müdigkeit. Dante Minervino und der kräftige Neger mit dem Boxergesicht ließen die drei jungen Wachsoldaten aus dem Wagen steigen, aber als die sechs Gefangenen ihnen folgen wollten, hielten sie sie zurück: »Keine Bewegung.« Sie begannen sofort zu schießen. Nicht auf sie, sondern auf die kleinen Soldaten. Die drei Jungen stürzten zu Boden, von Kugeln durchlöchert, ohne daß sie Zeit gehabt hätten, sich zu wundern, zu begreifen, zu schreien. »Was tut ihr da, was tut ihr, ihr Verbrecher!« schrie Salvador. »Warum diese armen Soldaten, ihr Mörder!« »Nicht wir töten sie, sondern ihr«, erwiderte ihm sehr ernst Major Dante Minervino, während er seine Maschinenpistole nachlud; der Neger mit dem platten Gesicht feixte laut. »Jetzt steigt aus.«
Benommen, ohne sich von der Überraschung erholt zu haben, stiegen die sechs aus dem Wagen; die Fußfesseln zwangen sie, sich mit lächerlichen Hüpfern vorwärtszubewegen. Sie wurden zu einem anderen, genau gleichen Wagen getrieben, der wenige Meter entfernt parkte, wobei sie über die Leichname der drei Wachsoldaten stolperten. Ein einziger Mann in Zivil stand daneben. Sie sperrten sie in den hinteren Teil und quetschten sich dann zu dritt auf den Vordersitz. Dante Minervino übernahm abermals das Steuer. Jetzt ja, jetzt konnte Salvador beten. Er hörte einen seiner Gefährten schluchzen, aber dieses Weinen lenkte ihn nicht ab. Er betete ohne Mühe, wie in den besten Zeiten, für sich, für seine Familie, für die drei gerade ermordeten Soldaten, für seine fünf Gefährten im Wagen, von denen einer die Nerven verloren hatte und den Kopf immer wieder fluchend gegen die Metallplatte rammte, die sie vom Fahrer trennte.
Er wußte nicht, wie lange diese Fahrt dauerte, denn er hörte keinen Augenblick zu beten auf. Er fühlte Frieden
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