Das Fest
Neuigkeit erfahren haben. Na und?, sagte sie zu sich selbst. Es war unvermeidlich, warum also eine große Sache daraus machen? Die eine Hälfte ihrer Bekannten würde reagieren wie Candi, vor Neid erblassen und gemeinsam mit Nora träumen. Die andere Hälfte würde sich auf Merrys Seite schlagen, scheinbar entsetzt von der Vorstellung, Weihnachten einfach zu ignorieren. Aber sogar in dieser Gruppe von Kritikern würden sie vermutlich viele insgeheim um die Reise beneiden.
Und außerdem — wen würde das in drei Monaten noch kümmern?
Nach ein paar Bissen schoben die drei Frauen ihre Sandwiches beiseite und holten den Papierkram für die Benefizauktion hervor. Das Thema Weihnachten wurde mit keiner Silbe mehr erwähnt — jedenfalls nicht in Noras Gegenwart. Als sie auf dem Heimweg war, rief sie Luther an und informierte ihn über ihren neuesten Etappensieg.
Luther war es an diesem Tag mal besser, mal schlechter ergangen. Seine fünfzig Jahre alte, dreifach geschiedene Sekretärin Dox hatte herumgewitzelt, dass sie sich die übliche Flasche billigen Parfüms wohl selbst kaufen müsse, wenn der Weihnachtsmann in diesem Jahr nicht komme. Zweimal hatte man ihn Scrooge genannt, immer gefolgt von einem Lachsturm. Wie originell, dachte Luther.
Am späten Vormittag stürzte Yank Slader in Luthers Büro, als seien wütende Klienten hinter ihm her. Bevor er die Tür schloss und Platz nahm, spähte er noch einmal auf den Flur hinaus. »Du bist ein Genie, alter Junge«, sagte er beinahe im Flüsterton. Yank war Fachmann für Abschreibungen, fürchtete sich vor seinem eigenen Schatten und arbeitete gern achtzehn Stunden am Tag, da er eine rabiate Frau zu Hause sitzen hatte.
»Wem sagst du das«, erwiderte Luther.
»Ich bin gestern Abend erst spät heimgefahren, habe gewartet, bis meine Angetraute im Bett war, und dann dasselbe gemacht wie du. Rechnungen addiert, Kontoauszüge durchgesehen — das ganze Drum und Dran. Ich bin auf fast sieben Riesen gekommen! Wie viel hat dich der Spaß gekostet?«
»Knapp über sechstausend.«
»Unglaublich. Und dann hat man noch nicht mal etwas davon! Das macht mich krank.«
»Geh auf eine Kreuzfahrt«, bemerkte Luther, der ganz genau wusste, dass Yanks Frau sich niemals auf eine solche Dummheit einlassen würde. Für sie begann die Weihnachtszeit gegen Ende Oktober und gewann danach ständig an Schwung, bis zum großen Finale am ersten Weihnachtstag, einem Zehn-Stunden-Marathon mit vier Festessen und dem ganzen Haus voller Gäste.
»Eine Kreuzfahrt«, murmelte Yank vor sich hin. »Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen. Zehn Tage auf einem Schiff mit Abigail. Ich würde sie über Bord werfen.«
Und daraus würde dir niemand einen Vorwurf machen, dachte Luther.
»Siebentausend Dollar«, wiederholte Yank.
»Lächerlich, nicht wahr?«, entgegnete Luther, und dann hielten die beiden Steuerberater einen Moment lang schweigend inne und trauerten um ihr schwer verdientes, verschwendetes Geld.
»Ist das deine erste Kreuzfahrt?«, fragte Yank.
»Ja.«
»Ich habe auch noch nie eine gemacht. Ob die wohl Singles an Bord haben?«
»Bestimmt. Es gibt keine Vorschrift, dass man in Begleitung reisen muss. Denkst du darüber nach, allein zu fahren, Yank?«
»Darüber denke ich nicht nach, Luther — davon träume ich.« Yank ließ seiner Fantasie freien Lauf, und in seinen tief liegenden Augen lag ein Hauch von Hoffnung, von Freude, von irgendetwas, das Luther noch nie zuvor an ihm gesehen hatte. Er schien durch das Büro zu schweben und in Gedanken durch die Karibik zu kreuzen, ganz allein, ohne Abigail.
Luther hörte schweigend zu, während sein Kollege laut träumte. Schon bald wurden diese Träume allerdings ein wenig peinlich. Glücklicherweise klingelte Luthers Telefon und holte Yank mit einem Ruck zurück auf den Boden der Tatsachen, in eine öde Welt voller Amortisationstabellen und zankischer Ehefrauen. Er stand auf und schien ohne ein weiteres Wort gehen zu wollen. Doch an der Tür drehte er sich noch einmal um und sagte: »Du bist mein Held, Luther.«
* * *
Vic Frohmeyer war die Geschichte von Mr. Scanion zugetragen worden, dem Pfadfinderführer, außerdem noch von der Nichte seiner Frau, die mit einem Mädchen zusammen wohnte, das als Aushilfe in Aubies Kürbiskern arbeitete, sowie von einem Kollegen an der Universität, dessen Bruder sich von jemandem bei Wiley & Beck die Steuererklärung machen ließ. Drei verschiedene, voneinander unabhängige Quellen — also musste an
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