Das Fest
während er selbstgefällig in seinem ruhigen Büro saß und sich nur mit Menschen befassen musste, die entweder für ihn arbeiteten oder Angst vor ihm hatten? Wiley & Beck war ein gemütlicher Altherrenclub, ein Haufen von spießigen, knickerigen Buchhaltern, die Luther wahrscheinlich für seinen Mut feierten, Weihnachten zu verreisen und so ein paar Dollar einzusparen. Wenn seine Totalverweigerung irgendwo zum Trend werden konnte, dann ganz gewiss in dieser Branche.
Während Nora wieder einmal dem Trommelfeuer ausgesetzt war, widmete sich Luther unbehelligt seiner Arbeit und spielte womöglich den Helden.
Es waren die Frauen, die sich um die Pflichten zu Weihnachten kümmerten, nicht die Männer. Frauen kauften ein, dekorierten und kochten, planten Partys, verschickten Karten und machten sich über Dinge Sorgen, die Männern niemals in den Sinn kämen. Warum war Luther eigentlich so sehr darauf erpicht, sich vor Weihnachten zu drücken, wenn er ohnehin kaum Arbeit in das Fest investierte?
Nora kochte innerlich, hielt sich jedoch zurück. Es machte keinen Sinn, im Frauenhaus eine Schlägerei mit Frauen anzufangen.
Jemand aus der Runde beantragte, die Sitzung zu vertagen, und Nora stürmte als Erste aus dem Raum. Während der Heimfahrt steigerte sich ihre Wut noch — auf Lila und ihren dummen Kommentar, auf ihren Ehemann und seinen Egoismus. Die Versuchung war groß, auf der Stelle zu kapitulieren, eine Einkaufsorgie zu veranstalten und das gesamte Haus zu dekorieren, bevor Luther von der Arbeit kam. Innerhalb von zwei Stunden konnte sie einen fertig geschmückten Weihnachtsbaum im Wohnzimmer stehen haben. Und es war auch noch nicht zu spät, die Party zu planen. Frohmeyer würde sich mit Freuden um ihren Frosty kümmern. Und das Geld für die Kreuzfahrt konnten sie wieder hereinholen, indem sie sich bei den Geschenken und einigen anderen Dingen einschränkten.
Nora bog in die Hemlock Street ein. Natürlich stach ihr als Erstes die Tatsache ins Auge, dass sich nur bei einem einzigen Haus kein Schneemann auf dem Dach befand. Luther hatte es geschafft. Ihr hübsches, zweistöckiges Backsteinhaus stand isoliert da, als wären die Kranks Hindus oder Buddhisten oder gehörten irgendeiner Sekte an, die nicht Weihnachten feiert.
Nora trat ins Wohnzimmer und blickte quer durch den Raum zum vorderen Fenster, vor dem bisher jedes Jahr ein wunderschöner Weihnachtsbaum gestanden hatte. Zum ersten Mal fiel ihr auf, wie kalt das ungeschmückte Haus wirkte. Sie biss sich auf die Lippen und griff nach dem Telefon, doch Luthers Sekretärin teilte ihr mit, dass er gerade eine Kleinigkeit essen gegangen sei. Nora sah den Stapel mit der Post durch und entdeckte zwischen zwei Urlaubskarten etwas, das sie abrupt innehalten ließ. Luftpost aus Peru. Spanische Wörter waren auf die Vorderseite gestempelt.
Nora setzte sich hin und riss den Umschlag auf. Zwei Seiten in Blairs hübscher Handschrift. Jedes Wort war kostbar.
Es gefiel ihr sehr gut in der Wildnis von Peru. Sie konnte sich gar nichts Besseres vorstellen, als bei einem Indianerstamm zu leben, den es schon seit einigen tausend Jahren gab. An US-amerikanischen Maßstäben gemessen waren die Indianer zwar bettelarm, aber gesund und glücklich. Die Kinder hatten anfangs große Zurückhaltung an den Tag gelegt, waren dann aber zutraulicher geworden und ausgesprochen lernbegierig. Blair ließ sich lang und breit über die Kinder aus.
Sie teilte sich eine Strohhütte mit Stacy, einer neuen Freundin aus Utah. Ganz in der Nähe wohnten zwei weitere Freiwillige des Friedenskorps. Das Korps hatte die kleine Schule vier Jahre zuvor eröffnet. Wie dem auch sei — Blair war gesund, bekam genug zu essen, bisher waren noch keine schrecklichen Krankheiten ausgebrochen oder gefährlichen Tiere aufgetaucht, und die Arbeit stellte eine Herausforderung dar.
Aus dem letzten Absatz konnte Nora die Kraft schöpfen, die sie so dringend benötigte. Er lautete:
Ich weiß, es wird schwer für euch sein, dass ich an Weihnachten nicht zu Hause bin, aber seid bitte nicht traurig. Die Kinder hier kennen Weihnachten gar nicht! Sie besitzen so wenig und haben so geringe Bedürfnisse, dass ich mich manchmal für den gedankenlosen Materialismus in unserer Gesellschaft schäme. Da es hier keine Kalender und keine Uhren gibt, werde ich wahrscheinlich sowieso nicht mitbekommen, wann genau Weihnachten ist.
(Und außerdem können wir nächstes Jahr alles nachholen, nicht wahr?)
So ein kluges Mädchen. Nora
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