Das Fest
las den Abschnitt noch einmal und empfand plötzlich großen Stolz. Nicht nur, weil sie eine dermaßen gescheite und weitsichtige Tochter großgezogen hatte, sondern auch, weil sie selbst beschlossen hatte, dem gedankenlosen Materialismus dieser Gesellschaft zumindest in diesem Jahr abzuschwören.
Sie rief noch einmal in Luthers Büro an und las ihm den Brief vor.
* * *
Montagabend im Einkaufszentrum! Nicht gerade Luthers Lieblingsort, aber er hatte den Eindruck, dass Nora ein wenig Ablenkung benötigte. An einem Ende des Zentrums befand sich ein kleines Restaurant, das einem irischen Pub nachempfunden war. Dort aßen sie zu Abend. Dann kämpften sie sich durch das Gedränge zum Multiplex-Kino am anderen Ende, wo eine mit vielen Stars besetzte romantische Komödie Premiere hatte. Acht Dollar die Karte, und Luther wusste genau, was ihm bevorstand: zwei öde Stunden lang würden überbezahlte Idioten durch eine einfältige Handlung taumeln. Doch gleichgültig — Nora ging gern ins Kino, und er zockelte um des lieben Friedens willen mit. Trotz des Gewimmels im Einkaufszentrum lag der Kinosaal einsam und verlassen da. Als Luther klar wurde, dass all die anderen Menschen nur zum Einkaufen hergekommen waren, überlief ihn ein freudiger Schauer. Er machte es sich auf seinem Platz bequem und schlief ein.
Ein Ellbogen in seinen Rippen weckte ihn. »Du schnarchst«, zischte Nora ihm zu.
»Na und? Hier ist doch niemand außer uns.«
»Sei still, Luther.«
Er blickte auf die Leinwand, hatte jedoch schon nach fünf Minuten genug. »Ich komme gleich wieder«, flüsterte er und ging hinaus. Lieber stürzte er sich in die Menge und ließ sich auf die Füße treten, als sich solchen Schwachsinn anzusehen. Luther fuhr mit dem Fahrstuhl zur obersten Etage, stützte die Arme auf das Geländer und betrachtete das Chaos unter sich. Ein Weihnachtsmann saß auf einem Thron und hielt Hof. Die Schlange der anstehenden Kinder rückte nur sehr langsam vorwärts. Drüben auf der Eisbahn plärrte die Musik aus knisternden Lautsprechern, während Kinder in Elfenkostümen Schlittschuh liefen, immer rings um ein ausgestopftes Etwas, das offenbar ein Rentier darstellen sollte. Die Eltern beobachteten das Ganze durch die Sucher ihrer Videokameras. Ermattete, mit Tüten beladene Käufer schlurften vorbei, rempelten gegeneinander, brüllten ihre Kinder an.
Luther war noch nie so stolz gewesen.
Schräg gegenüber entdeckte er ein neues Geschäft für Sportartikel. Er schlenderte hinüber und konnte durch das Schaufenster erkennen, dass sich im Ladeninneren Horden von Menschen drängten und es eindeutig nicht genug Kassen gab. Doch er wollte sich ja lediglich einmal umsehen. Luther fand die Schnorchelausrüstungen im hinteren Teil des Geschäfts — eine ziemlich magere Auswahl, aber schließlich war es Dezember. Die Badehosen sahen durchweg atemberaubend eng aus und konnten eigentlich nur Olympiaschwimmern unter zwanzig Jahren passen. Eher kleine Beutel als Kleidungsstücke. Luther wagte es kaum, sie anzufassen. Er würde sich einen Katalog besorgen und von seinem sicheren Heim aus einkaufen.
Als er das Geschäft verließ, tobte an einer der Kassen gerade ein Streit. Offenbar war ein Artikel verschwunden, den sich ein Kunde hatte zurücklegen lassen. Was für Schwachköpfe.
Luther kaufte sich einen fettarmen Joghurt und schlug die Zeit damit tot, durch die oberste Etage zu bummeln und selbstgefällig die armen Seelen zu belächeln, die hier ihre Gehaltsschecks verschleuderten. Dann blieb er stehen und glotzte ein Poster an, auf dem lebensgroß ein hinreißendes junges Ding mit perfekt gebräunter Haut in einem String-Bikini abgebildet war. Es sollte ihn in ein kleines Sonnenstudio mit dem Namen Ewige Bräune locken. Als handele es sich um einen Sexshop, warf Luther erst einen Blick in die Runde, ehe er hineinging. Eine gewisse Daisy wartete hinter einer Zeitschrift auf Kundschaft. Sie lächelte gezwungen, wobei ihr braunes Gesicht auf der Stirn und rings um die Augen Sprünge zu bekommen schien. Angesichts ihrer geweißten Zähne, blondierten Haare und gebräunten Haut fragte sich Luther eine Sekunde lang, wie sie wohl vorher ausgesehen hatte.
Wie zu erwarten verkündete Daisy, dass dies die beste Jahreszeit für den Kauf einer Dauerkarte sei. Das Weihnachtssonderangebot umfasse zwölf Besuche im Sonnenstudio für 60 Dollar. Jeden zweiten Tag eine Bestrahlung, von anfangs fünfzehn Minuten bis hin zur Höchstdauer von fünfundzwanzig
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