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Das Festmahl des John Saturnall

Das Festmahl des John Saturnall

Titel: Das Festmahl des John Saturnall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Norfolk
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dunkelgrünes Kleid mit leuchtendrotem Saum. Eine dünne silberne Kette schlang sich um ihren Hals und verschwand in ihrem Mieder. Ihre Haare waren zu komplizierten Flechten aufgesteckt,
aber ihre bestrumpften Beine baumelten über dem staubigen Fußboden. Schwarze Stiefel, deren Schnürsenkel in Silberkappen endeten, lagen neben ihr. »Was von beidem bist du?«, fragte sie.
    John ließ den Blick durch die Galerie wandern. »Ich bin kein Dieb«, sagte er. »Und kein Landstreicher.«
    Sie roch schwach nach Rosenwasser. Hinter ihrer Miene verbarg sich ein Lächeln, als fürchtete es, sich zu zeigen. Ihre dunklen Augen taxierten ihn.
    »Du müsstest knien, weißt du das?«, sagte das Mädchen. »Oder in meiner Gegenwart stehen und den Blick abwenden. Du weißt wohl nicht, wer ich bin, oder?«
    Joshs Anweisungen hatten nicht beinhaltet, was angebracht war, wenn man es mit einem Mädchen zu tun hatte. John stand auf.
    »Ich bin Lady Lucretia Fremantle, die Tochter Sir Williams und Lady Annes von dem Tal von Buckland«, verkündete das Mädchen. Als John schwieg, fügte es hinzu: »Ich habe auch noch andere Titel.«
    Er stand vor ihr in seinem feucht müffelnden Überrock, dem fleckigen Hemd und den schmutzigen Kniehosen. Seine Kopfhaut juckte unter den abstehenden Haarbüscheln.
    »Hast du einen Namen?«, fragte sie.
    »John Saturnall.«
    »John Saturnall, Euer Ladyschaft«, verbesserte ihn das Mädchen. »Was bringt dich her, Master Saturnall?«
    »Ich bin gekommen, um in den Haushalt einzutreten.«
    »Aber jetzt bist du weggelaufen.«
    »Sie wollen mich nicht haben.«
    Sie betrachtete ihn abschätzig von ihrem Fenstersitz aus. Er trat von einem Fuß auf den anderen. In der Fensternische hinter dem Mädchen sah er einen Umhang, der wie eine Decke ausgebreitet war. Zusammengerollte Kleidungsstücke bildeten ein Kissen. Vier Puppen beobachteten ihn von dem improvisierten Bett aus. Lady Pimpernel, dachte er. Lady Whitelegs. Mama. Er entsann sich des Geplappers der Dienstmädchen im Hof.

    »Ihr seid auch weggelaufen«, sagte er.
    »Das ist wohl kaum möglich, John Saturnall«, sagte das Mädchen kokett. »Ich wohne hier. Und was bringt dich her?«
    Ihr Blick wanderte durch die staubige Galerie. John bemerkte, dass eine ihrer Flechten sich gelöst hatte. Und dass ihre Hände schmutzig waren.
    »Ich habe Euch singen gehört.«
    »Singen? Das glaube ich nicht.«
    »Doch, so war es.« John räusperte sich und versuchte dann, den Singsang des Mädchens nachzuahmen. »Komm, lebe mit mir, mein Herz, mein Lieb ...«
    Es ging noch weiter, handelte von tiefen Tälern und Kleidungsstücken. Aber er verstummte, als Lucretia indigniert den Kopf schüttelte.
    »Welche Stelle hast du dir erhofft?«, fragte sie.
    John dachte an das große Gewölbe unten, an den Schwall von Aromen und Gerüchen, der den Raum durchzog. »In der Küche«, sagte er.
    »Als Koch?« Sie sagte es, als ekele sie sich vor dem Wort.
    »Ohne Köche kein Essen«, sagte John. »Mylady.«
    »Essen?« Sie rümpfte die Nase.
    Ihr Gesicht sah aus wie zerbrechliches weißes Porzellan, dachte er. Kalt und vollkommen wie ihre Puppen. Schweigend beäugte sie ihn. Doch dann wurde die Stille gestört.
    Ein gurgelndes Geräusch ertönte in der langen Galerie, ein tiefes, ungestümes Grimmen der Eingeweide, das von den nackten Dielen zurückgeworfen wurde und die Wände entlanglief. Das laute Knurren ließ John erstaunt die Stirn runzeln; das Stirnrunzeln verwandelte sich in ein Lächeln. Denn Lucretia Fremantles Wangen erröteten. Das Knurren kam aus ihrem Magen.
    »Klingt so, als wäre es ratsam, etwas zu sich zu nehmen«, sagte John zu ihr, noch immer lächelnd. Aber das Mädchen lächelte nicht.
    »Sei still!«, zischte es.
    »Ich mach keinen Lärm.«
    »Wie kannst du dich unterstehen!«

    Er sah, wie ihr Gesicht rot anlief. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. Sie starrte ihn wütend an. Er erwiderte ihren Blick verwundert.
    »Es ist nur Euer Bauch«, sagte er, um sie zu besänftigen, »der Hunger hat.«
    »Wie kannst du dich unterstehen!«, kreischte sie. Die lose Strähne baumelte hin und her, als sie aufstand. »Behalte deine Gedanken für dich!«
    Bevor John etwas sagen konnte, ertönten draußen Stimmen. Im Gesicht des Mädchens sah er seinen eigenen Schrecken gespiegelt. Einen Augenblick lang starrten sie einander an, in der Furcht vor Entdeckung vereint. Dann verengten Lucretias Augen sich abermals. Sie öffnete den Mund.
    »Hier!«, rief sie die Galerie entlang.

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