Das Feuer bringt den Tod: Thriller (German Edition)
Vereinskamerad war ein hagerer Mann mit wirrem weißem Haar. Er erinnerte Möhrs auf unheimliche Weise an einen seiner alten Geschichtslehrer, was an der braunen Cordhose und dem Karohemd liegen mochte.
Für sein nächstes Vorhaben zog Möhrs sich in den Vorgarten zurück. Möglicherweise wäre es angemessener gewesen, den Abschiedsbrief von Erika Saalfeld im Haus zu lesen, aber er brauchte frische Luft. Es gab Erlebnisse, die nicht so schnell an einem abperlten. Er drehte sich mit dem Rücken zur Straße und holte den Umschlag aus der Innentasche seiner Jacke. Thilo stand darauf. Die Lasche war nur eingesteckt, sodass Möhrs den Umschlag nicht einmal aufreißen musste. Er zog den Brief daraus hervor und faltete ihn auf. Saalfelds Schrift war klar und leserlich, mit kunstvoll geschwungenen Bögen und kurzen Strichen anstelle von Pünktchen über den Umlauten.
Thilo,
ich weiß, dass Du jemand bist, der nach Erklärungen sucht, und ich denke, wenn Du diese Zeilen liest, werde ich Dir eine schuldig sein.
Du weißt, wie lange ich gekämpft habe und wie viel ich bereit war, für diesen Kampf zu opfern. Wie viel ich dafür geopfert habe . Vielleicht zu viel. Ich habe die Kraft für diesen Kampf nie aus etwas geschöpft, das in mir war. Ich schöpfte sie – und ich weiß, wie widersinnig sich das für Dich anhören muss – aus etwas, das mir fehlte . Aus der Leere, die Julias Tod in meiner Seele hinterlassen hat. Ich habe lange geglaubt, ich hätte einen Weg gefunden, wie ich dieses schreiende Nichts in mir wieder zum Verstummen bringen kann. Ich meinte, ich müsste dazu nur meinen Kampf gewinnen. Das Gefühl eines gewaltigen Triumphs würde die klaffende Wunde schließen. Sie mit etwas ausfüllen, das mir Frieden schenkt.
Ich habe mir etwas vorgemacht. Mein Weg war nur ein Irrweg. Ich höre in letzter Zeit oft, ich hätte doch endlich gewonnen. Das habe ich nicht. Ich habe darum gekämpft, etwas zurückzugewinnen , das nicht zurückzugewinnen ist. Leider habe ich das erst jetzt begriffen.So wie ich erst jetzt begriffen habe, dass mir die Leere in mir nicht nur Kraft gegeben hat. Sie frisst mich auf. Stück für Stück, von Anfang an. Und wer außer Dir wüsste besser, was sie bereits alles verschlungen hat?
Sieh meine Entscheidung bitte nicht als Niederlage. Sie ist eine Befreiung. Ich gehe nur dorthin, wohin mir Deine Schwester vorangegangen ist. Ich weiß, dass sie mir meinen Fehler verzeihen wird. Dass ich geglaubt habe, in ihrem Namen einen Kampf aufnehmen zu müssen. Einen Kampf gegen ein System. Dabei gibt es gar keine Systeme, wie ich jetzt weiß. Systeme sind eine Lüge. Sie sind nur ein Wort. Ein Wort, das uns ruhigstellen soll. In Wahrheit gibt es nämlich nur Menschen. Menschen, die Entscheidungen treffen. Entscheidungen, die heilen, und Entscheidungen, die zerstören. Es nutzt nichts, Rache an einem System nehmen zu wollen. Darin findet man keinen Frieden. Man kann sich nur an Menschen rächen.
Es gibt andere, die das lange vor mir verstanden haben. Die nicht davor zurückschrecken, das zu tun, wozu ich immer zu feige gewesen bin. Ich weiß nicht, wer sie sind, aber bei Gott, ich wünschte mir, ich hätte die Kraft dazu gefunden, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, um den Mord an meinem Kind zu rächen. Was hätte mir dann auch gedroht? Gefängnis. Und worin lebe ich, seit Deine Schwester fort ist? In einem Gefängnis aus Verzweiflung, Scham und Selbstzerfleischung.
Bitte vergib mir, dass ich nicht länger darin gefangen sein will.
Mama
»So ein Dreck«, murmelte Möhrs. »So ein verdammter Dreck.« Er faltete den Brief zusammen, steckte ihn zurück in den Umschlag und hätte ihn am liebsten in Fetzen gerissen. Sie war es nicht gewesen. Er hatte danebengelegen, undunter Umständen war es der Druck, unter den er sie vorhin gesetzt hatte, der sie einen lange gehegten Plan hatte in die Tat umsetzen lassen. Oder Erika Saalfeld war die kaltblütigste Lügnerin, der er je begegnet war.
Er schaute zu Liebknecht. Der Mann war inzwischen den Tränen nahe und redete unzusammenhängend auf Borowski ein. Einmal zuckte sein Finger in Möhrs’ Richtung.
Ein klappriges braunes Auto schoss die Straße herunter und bremste scharf vor dem Haus der Saalfelds ab. Den Fahrer – ein dünner Typ mit Pferdeschwanz, der seinen Wagen einfach auf der Straße stehen ließ – kannte Möhrs nicht, die Blondine, die auf der Beifahrerseite ausstieg, sehr wohl. Er hatte sie erst heute Morgen in Lübeck getroffen.
»Thilo,
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