Das Feuer der Wüste
an, dann verließ sie grußlos die Polizeiwache. Von diesem Beamten war ohne Zweifel keine Hilfe zu erwarten. Getrieben vom ohnmächtigen Verlangen, etwas tun zu müssen, aber nicht zu wissen, was, blieb sie eine Weile unschlüssig vor der Polizeistation stehen. Dann stieg sie in den Dodge und fuhr zum Hauptgebäude des Diamond World Trust. Wenn ihr jetzt noch einer helfen konnte, dann war das Henry Kramer.
Sie ließ sich beim Pförtner melden, und fünf Minuten später zeigte der Fahrstuhl an, dass jemand von oben herunterkam. Henry!
Henry breitete die Arme aus, als er sie sah. »Wo warst du nur? Wo bist du gewesen, meine Liebste? Ich habe die ganze Stadt nach dir abgesucht.« Er wollte sie in seine Arme ziehen, aber Ruth wehrte ihn ab.
»Später, Henry, später erzähle ich dir alles. Aber jetzt brauche ich deine Hilfe. Meine Großmutter … Sie ist weg.« In hastigen Sätzen und nach Luft ringend berichtete Ruth, was geschehen war.
»Warst du schon bei der Polizei?«
»Ach, das kannst du vergessen!«
Henry nickte. »Ich werde sofort die Ranger des Nationalparks anrufen, damit sie die Augen offen halten. Dann die Diamantenhändler.« Er zog Ruth in seine Arme. Und Ruth, endlich nicht mehr allein, endlich mit Aussicht auf Hilfe, ließ es sich dieses Mal gefallen und begann zu weinen.
»Und ich? Was kann ich tun?«, schluchzte sie und fühlte sich hilflos wie ein Kind.
»Geduld musst du haben, Liebes. Am besten, du gehst in die Pension, in der du gewohnt hast. Ich melde mich bei dir, sobald ich kann. Soll ich dir einen Wachmann mitgeben, der auf dich aufpasst?«
»Nein, ich denke nicht, dass das nötig ist.« Auf einmal merkte sie, wie erschöpft sie war. Ihr Magen rumorte vor Hunger, der Durst hatte ihre Lippen rissig und spröde gemacht. Es drängte sie danach, etwas zu tun, aber sie wusste auch, dass Henry recht hatte. Im Augenblick konnte sie nichts tun. Sie ließ sich von ihm küssen und zurück zum Auto begleiten.
»Mach dir keine Sorgen, Liebes, ich tue alles, was in meiner Macht steht. Wir werden sie finden, du wirst sie wiedersehen, das verspreche ich dir.«
Ruth nickte und lächelte müde. »Was soll ich machen, wenn ich Horatio treffe?«, fragte sie. »Soll ich die Polizei rufen?«
»Nein, auf gar keinen Fall. Tu am besten gar nichts. Ruf einfach mich an. Hörst du? Mich! Hier, in der Firma. Meine Nummer hast du ja. Nicht die Polizei.« Henry Kramer hob die Hände. »Womöglich ist er auch für dich gefährlich. Wer weiß, was er vorhat. Immerhin bist du eine Mitwisserin, eine die weiß, was er plant und auch, welche Verbrechen er bereits begangen hat.«
Ruth fühlte sich mit einem Mal so kraftlos, dass sie es kaum schaffte, den Zündschlüssel zu drehen. Sie fuhr beinahe im Schritttempo zur Pension, war froh, dass sie ihr altes Zimmer wieder beziehen konnte. Dann fragte sie nach Horatio. Sie wusste nicht, ob sie sich wünschen sollte, ihn hier zu finden, oder ob es ihr lieber wäre, er wäre fort. In ihrem Kopf herrschte gähnende Leere, und ihr Herz hatte sich zu einem schmerzenden Klumpen zusammengezogen.
»Haben Sie sich nicht getroffen?«, fragte die Pensionswirtin.
»Nein. Wo denn auch?«
»Nun, er kam gestern, kurz nachdem Sie das Haus verlassen haben. Er sagte, er wolle mit Ihnen in die Wüste fahren. Eine Exkursion. Als ich ihm mitteilte, dass Sie schon weg sind, schien er erstaunt und antwortete: ›Sie wird wohl beim Truckstop auf mich warten.‹ Er hat sein Gepäck mitgenommen und ist bis jetzt nicht zurückgekehrt.«
Ruth dankte, schleppte sich nach oben in ihr Zimmer. Ihre Gedanken kreisten um Horatio. Sie war enttäuscht und traurig. Wie hatte Horatio sie nur so betrügen können? Beinahe, dachte sie, beinahe hätte ich ihm ganz und gar vertraut.
Zu erschöpft, um zu duschen, legte sie sich, wie sie war, aufs Bett und überlegte, was er wohl mit dem Stein vorhatte. Plötzlich richtete sie sich auf. Er würde den Stein verkaufen, sicher, aber bestimmt nicht in Namibia, sondern wahrscheinlicher drüben in Kapstadt, in Südafrika. Das Geld würde er ganz bestimmt der SWAPO vermachen. Die könnte damit eine richtige Organisation bilden, die in ganz Afrika für die Rechte der Schwarzen kämpfen würde. Es war viel wahrscheinlicher, dass Horatio sich nicht auf die Kraft eines Diamanten verließ, wohl aber auf die Kraft der Schwarzen.
Ruth stieß dieser Gedanke grundsätzlich nicht ab. Aber warum hatte Horatio Margaret Salden entführt? Sie war eine alte Frau und würde ihm
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