Das Feuer der Wüste
über die Seelen der Namas. Seit der Diamant verschwunden ist, fehlt meinem Volk die Seele.«
Ruth stand auf.
»Wo willst du hin, Ruth?«
Die junge Frau zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, Mama Elo. Ich weiß nur, dass ich wegmuss. Weg von hier. Vielleicht nur für ein paar Tage.«
»Sie hat dich gerufen, nicht wahr? Deine Großmutter, sie braucht dich jetzt.«
Ruth stutzte. Sie wusste, dass die Schwarzen an Geister und übernatürliche Kräfte glaubten und auch daran, dass die Toten noch lange Zeit Macht über die Lebenden hatten. »Ich weiß es nicht, Mama Elo. Ich habe keinen Kontakt zu den Toten. Sie sprechen nicht zu mir. Meine Großmutter ist mir nicht im Traum erschienen, sondern im Leben.«
Die schwarze Frau lächelte. »Ein Zeichen dafür, dass sie noch lebt und nach dir ruft.«
Ruth beugte sich zu Mama Elo hinab und küsste sie auf die Wange. »Auf Wiedersehen, Mama Elo, und danke. Ich hab dich lieb.«
»Ich dich auch, mein Meisie. Pass auf dich auf.« Sie nestelte an ihrem Dekolleté herum und zog schließlich einen Stein an einem Lederband über den Kopf. »Hier«, sagte sie. »Das ist ein Stein des Feuers, ein Sehnsuchtsstein. Er wird dir helfen, wenn du in Not bist.«
Ruth schüttelte lächelnd den Kopf. »Dein größter Schatz, Mama Elo. Behalte ihn, er hat dich dein Leben lang beschützt. Ich bin keine Namafrau, nur eine Weiße. Der Stein wird sich um mich nicht kümmern.«
Ruth wusste, dass Mama Elo den Stein mit ihrem eigenen Leben verteidigt hätte. Sie konnte ihn nicht annehmen. Doch die Namafrau ließ nicht locker. »Ich habe ihn all die Jahre nur für dich aufbewahrt. Das weiß ich jetzt. Nimm ihn, du wirst ihn brauchen. Ich kann nur schlafen, wenn ich weiß, dass du den Stein hast und er dich behütet. Er macht alle Flüche unwirksam.« Sie nahm das Lederband und legte es Ruth um den Hals. Der Stein, nicht größer als ein Aprikosenkern, erinnerte an braunen Kandiszucker. Er pendelte einen Augenblick zwischen Ruths Brüsten, dann schmiegte er sich an ihre Haut, als gehörte er schon immer dorthin.
Ruth verspürte am ganzen Körper ein Kribbeln. Obwohl sie normalerweise über den Aberglauben der Schwarzen lächelte, war ihr, als fahre ein warmer Stoß durch sie hindurch. Eine Wärme, nach der sie glaubte, immer gesucht zu haben. Eine Wärme, die sie schützte wie die Arme einer Mutter. Eine Wärme, die nur für sie da war. Unwillkürlich schloss sie einen Moment lang die Augen – und sah mit einem Mal Flammen vor sich, leckende Flammen, die ihr Angst machten. Und sie hörte einen Schrei, den Schrei einer Frau.
Ruth riss die Augen auf – und sah in Mama Elos lächelndes Gesicht. Sie schüttelte sich ein wenig, um auch das innere Bild loszuwerden. Sie musste geträumt haben. Am helllichten Tag geträumt. Rasch nahm sie ihren Hut, setzte ihn auf. »Ich muss los, Mama Elo.«
»Gott schütze dich, Meisie.«
Ruth sah noch einmal die schwarze Frau an, prägte sich ihr Bild ein, als fürchte sie, Mama Elo nie wiederzusehen. Sie hätte gern noch etwas gesagt, hätte die alte Frau gern getröstet, aber ihr fiel nichts ein, was sie hätte sagen können. Also nickte sie nur, tippte sich an ihren Hut und ging.
Sechstes Kapitel
I n der Nacht hatte es so viel geregnet, dass die Straßen ganz verschlammt waren. Einige Bäume waren sogar unterspült worden und lagen jetzt quer über der Pad.
Ruth war gleich nach ihrem Gespräch mit Mama Elo aufgebrochen. Sie wollte nur noch weg. Weg von Salden’s Hill, weg von ihrer Mutter, und vor allem weg von Nath. Sie trug einen frischen Overall und ihre Lieblingsstiefel. In einer Papiertüte auf dem Beifahrersitz hatte sie ihre eilig zusammengesuchten Stadtklamotten, unter der Plane des Bakkies lagen all die Dinge, die man gewöhnlich auf einen Viehtreck mitnahm: ein kleines Zelt, eine alte Plane, Schlafsack, Streichhölzer, Taschenlampen, Messer, Spaten, ein zerbeulter Topf und ein paar Konserven.
Sie war auf dem Weg nach Gobabis, um Horatio am Bahnhof abzuholen, wie sie es verabredet hatten. Zwei Baumstämme hatte sie mit dem Dodge schon zur Seite gezogen. Jetzt lag der dritte vor ihr. Ruth stieg aus und fluchte, als sie mit den Stiefeln bis zum Knöchel im Schlamm versank. Sie holte das Seil von der Ladefläche, schlang es zuerst um den Baum, dann um die Anhängerkupplung des Pick-ups und zog den Stamm zur Seite. Dann wischte sie den Schlamm notdürftig mit hartem Steppengras von ihren Stiefeln, stieg ein und fuhr weiter bis zum nächsten
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