Das Feuer der Wüste
konnte ihrer Mutter noch immer nicht in die Augen sehen. Sie wusste keine Antwort, fühlte sich plötzlich mutlos und verlassen. Etwas in ihr hatte all die Jahre gehofft, dass ihre Mutter eines Tages in Liebe zu ihr entbrennen würde, dass sie Corinne als die erkannte, die sie war: ein eitles, faules Stück. Und sie, Ruth, als eine, die anpacken konnte. Jetzt aber erkannte Ruth, dass das niemals passieren würde. Corinne und ihre Mutter – ein Fleisch, ein Blut. Und sie ein Anhängsel, an das man sich gewöhnt hatte. Mehr nicht. Sie hätte schreien, ihre Mutter bei den Schultern packen und schütteln können, doch sie blieb sitzen und trank in kleinen Schlucken von ihrem Bier. Es war sinnlos. Es war, wie es war.
Als sie ausgetrunken hatte, stand Ruth auf. »Ich bin müde, ich gehe schlafen«, sagte sie steif, hob die Hand und verschwand im Haus. Auf der Türschwelle hielt sie noch einmal inne. »Um die Farm zu verkaufen, brauchst du meine Unterschrift. Damals, als du den Kredit gebraucht hast, hast du Corinne und mir je ein Drittel überschrieben. Du kannst nicht mehr allein und nur so entscheiden, wie es für dich das Beste ist. Und Corinnes Unterschrift kostet Geld. Mehr Geld, als mit dem Verkauf zu erzielen ist. Sie wird ihr Drittel haben wollen, wenn du die Farm verkaufst. Da kannst du sie lieben, so sehr du willst.«
Lange lag sie im Bett, starrte an die Decke, lauschte dem Wind, der die Kameldornbäume vor dem Haus zauste. Niemand wollte mich, dachte sie, und bis heute hat sich nichts daran geändert. Was würde wohl passieren, wenn ich eines Tages nicht mehr da wäre? Einfach fortginge? Meine Mutter würde mich sicher nicht vermissen. Sie könnte endlich die verhasste Farm verkaufen und zu Corinne in das schöne weiße Haus ziehen – falls Corinne sie dort überhaupt haben wollte. Oder sie würde sich eine Wohnung in Swakopmund nehmen und dort mit den anderen weißen Frauen den guten alten Zeiten hinterherträumen, die sie nie erlebt haben.
Ruth hätte gern geweint, sich den Schmerz in der Brust weggeweint, doch sie hatte keine Tränen. Corinne war die schöne, vornehme Tochter des schönen, vornehmen Fremden. Und sie selbst nur die trampelige Tochter des bäurischen irischen Schafscherers, die immer nur Ärger machte und niemals so sein konnte, wie sie hätte sein sollen.
Niemand wollte sie. Das war schon immer so gewesen. Warum tat es heute so besonders weh? Es war so schwül, dass Ruth es in ihrem Bett nicht mehr aushielt. Sie warf sich einen Bademantel über und ging hinaus auf die Weiden. Sie lehnte sich an einen Koppelzaun, stützte das Kinn auf den obersten Balken und sah in den bedeckten Himmel hinauf, der kaum einen Blick auf die Sterne freigab. Die Sterne. Ihr Vater hatte einmal gesagt, dass es für jeden Menschen auf der Erde einen Stern am Himmel gebe. Und sie hatte gefragt, welcher der ihre sei. Ian hatte nach oben gezeigt. »Für dich leuchtet der hellste am Himmel, der Stern des Südens«, hatte er gesagt. »Überall in Afrika wirst du ihn sehen. Er wird bei dir sein, wo immer du gerade bist. Du musst nur zum Himmel blicken. Und gleichgültig, wo ich sein werde, ich brauche nur nach oben zu schauen und werde wissen, dass es dir gut geht.«
Ja, Ian hatte sie geliebt, aber jetzt war er tot. Ruth seufzte. Das Leben kam ihr plötzlich unerträglich schwer und ungerecht vor.
»Na, Schönste von Salden’s Hill, was machst du denn mitten in der Nacht hier draußen?«
»Guten Abend, Nath.« Ruth fuhr herum, musterte Nath mit zusammengekniffenen Augen, um ihm nicht die Gelegenheit zu geben, den Aufruhr in ihrem Inneren zu bemerken. Was sie dachte und fühlte, ging niemanden etwas an, am allerwenigsten Nath Miller. »Und du, müsstest du nicht längst im Bett sein? Jungs in deinem Alter brauchen ihren Schlaf, damit sie auch morgen noch brav Schafe stemmen können.«
Sie musterte ihn und lächelte ein wenig, als sie sah, dass sich der Mond auf seinem geschorenen Kopf spiegelte wie in einem Teich. »Außerdem könntest du dich verkühlen. Obenrum meine ich.« Sie tippte ihm auf den Kopf.
Er lachte, holte aus seiner Jacke zwei Flaschen Hansa Lager hervor, öffnete sie, indem er die Verschlüsse gegeneinander aufhebelte, und reichte ein Bier an Ruth weiter. »Prost.«
Sie tranken schweigend, dann wies Nath mit der Flasche über die Weiden, die in grauer Nacht vor ihnen lagen. »Eigentlich schade, dass alles einmal vergeht«, sagte er. »Mir hat Salden’s Hill immer gefallen.«
»Was soll das
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