Das Feuer der Wüste
Sie. Das ist eine Abschrift der Eingabe vom Juli 1900 an die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes. Es handelt sich um die Abschrift eines Originaldokumentes. Soll ich vorlesen?«
Ruth nickte.
»›Für Milde und Nachsicht hat der Eingeborene auf die Dauer kein Verständnis: Er sieht nur Schwäche darin und wird infolgedessen anmaßend und frech gegen den Weißen, dem er doch nun einmal gehorchen lernen muss, denn er steht geistig und moralisch tief unter ihm‹«, zitierte Horatio. Dann schaute er sie schweigend an.
Ruth schien es, als würde er darauf warten, dass sich die Worte in ihrem Gedächtnis festsetzten. »Sie sehen mich an, als hätte ich diese Eingabe verfasst«, beschwerte sie sich.
»Tja, viele Weiße denken heute noch so.«
»Aber ich nicht. Und wissen Sie, warum nicht?«
»Nein.«
»Weil ich eine Frau bin, darum. Denken Sie sich das Wort ›Eingeborener‹ weg und setzen Sie dafür das Wort ›Frau‹ ein, dann wissen Sie, wie Männer denken. Und zwar nicht nur weiße Männer.«
Horatio schaute sie fasziniert an. »Ihre Mimik ist lebhafter als ein Kriminalfilm im Kino«, sagte er und erschrak, als Ruths Augen plötzlich gefährlich zu funkeln begannen.
»Sehen Sie!«, rief sie so laut, dass die Leute an den Nachbartischen sich umwandten. »Sie sind genauso. Regen sich auf über Unterdrückung, denken aber keine Sekunde daran, mich ernst zu nehmen. Weil ich eine Frau bin, deshalb. Und somit sind Sie keinen Deut besser als ein Weißer. Und nur weil Sie schwarz sind, sind Sie kein Rassist, sondern nur ein Chauvinist.«
Kaum hatte Ruth die Worte ausgesprochen, biss sie sich auf die Zunge. »Verzeihung«, sagte sie leise. »Erzählen Sie weiter von dem Aufstand.«
»Nur wenn Sie mich ausreden lassen und aufhören, mich zu beschimpfen.«
Ruth sog tief die Luft ein, sah nach rechts und dann nach links.
»Also?«
»Yeap. Ich halte den Mund«, lenkte Ruth ein. »Und jetzt reden Sie endlich!«
»Es begann eine Zeit politischer Grabenkämpfe. Die Deutschen waren nicht auf einen Krieg in ihrer Kolonie vorbereitet. Doch die Hereros rüsteten auf. Es gab ungefähr eine Dreiviertelmillion Hereros zu dieser Zeit, und siebentausend davon waren gute Krieger und zu allem bereit. Sie sammelten sich in der Region von Waterberg. Die Weißen glaubten zunächst, es ginge um die Austragung von Nachfolgestreitigkeiten, denn der Hererohäuptling Kaojonia Kambazembi war gerade gestorben. Stattdessen erließ der neue Häuptling, Samuel Maharero, einen Befehl für sein Volk.«
Horatio blätterte in seinen Aufzeichnungen und zog dann ein weiteres Blatt hervor. »›Okahandja, im Januar. An alle Hereros in diesem Land‹«, las er. »›Ich bin Samuel Maharero, der Häuptling des Stammes. Ich habe einen Befehl für alle meine Leute angefertigt, dass sie nicht weiter ihre Hände legen an Folgende: Engländer, Bastards, Bergdamara, Nama, Buren. Alle diese rühren wir nicht an. Tut das nicht!‹«
Er legte das Blatt zur Seite und richtete sich auf. »Damit war die Feindschaft zwischen den Stämmen und Clans der Eingeborenen vorerst beendet, denn es gab einen neuen Feind, der sie alle einte: die Deutschen. Zunächst ging es den deutschen Siedlern an den Kragen, dann folgten neben Angriffen auf Farmen weitere gegen Eisenbahnlinien, Depots und Handelsstationen. Im ganzen Land gab es Gefechte zwischen deutschen Truppen und den Kriegern der Herero und Namas. Schließlich übernahm General Lothar von Trotha den Befehl über die deutschen Truppen. Er war ein Mann, der nicht lange fackelte. Im August gab er den Befehl, einen Großteil der schwarzen Krieger in der Nähe des Waterberges einzukesseln und zu vernichten. Als die Schwarzen in die Wüste flohen, gab General von Trotha den Befehl, das Sandfeld abzuriegeln, die Fliehenden zu verfolgen und ihnen den Zugang zu den Wasserstellen abzuschneiden. Im Oktober desselben Jahres erließ von Trotha eine Proklamation an die Hereros, die der Beginn eines Pogroms war. Ruth, ich lese Ihnen den Befehl vor, wenn Sie nichts dagegen haben.«
Ruth hatte das Kinn in die rechte Hand gestützt, den Ellbogen auf der Tischplatte. Sie seufzte, dann schüttelte sie den Kopf und sagte leise: »Ich will nicht glauben, was ich da höre, will nicht zum selben Volk gehören wie die, die Ihr Volk in die Wüste getrieben haben. Wie viele Menschen, wie viele Frauen und Kinder, wie viel Vieh sind wohl dabei umgekommen?«
Horatio hob ein wenig die Augenbrauen, dann zog er ein mit Schreibmaschine
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