Das Flüstern der Nacht
aus, indem er einmal um die eigene Achse wirbelte, und versetzte ihm aus der Drehung heraus einen Tritt in die Seite, der ihn zu Boden warf.
Jardir rollte sich ab, kam sofort wieder auf die Füße und verwünschte sich, weil er den Jungen unterschätzt hatte. Er ging sofort zum nächsten Angriff über, wobei er auf seine Deckung achtete, und täuschte einen Schlag gegen Ashans Kinn vor. Als der Junge zu einer Abwehrbewegung ansetzte, drehte Jardir sich einmal und simulierte einen Ellbogenstoß in die Nierengegend. Abermals wich Ashan aus und nahm die korrekte Grundstellung ein; Jardir vollführte wieder eine Drehung und zog jetzt den richtigen Angriff durch - einen Fußfeger, auf den er einen Ellbogenstoß gegen die Brust folgen lassen wollte, um den nie’dama zu Fall zu bringen.
Aber das Standbein des Gegners, das Jardir wegfegen wollte, war nicht da, wo es hätte sein sollen, und sein Tritt ging ins Leere. Ashan packte sein Bein, und indem er Jardirs eigene Kraft gegen ihn richtete, führte er exakt die Angriffstechnik aus, die Jardir geplant hatte. Als Jardir hinfiel, rammte Ashan ihm seinen Ellbogen in die Brust, dass ihm die Luft aus der Lunge gepresst wurde. Er knallte auf den Marmorboden und schlug schwer mit dem Kopf auf, aber er machte sich zum Aufstehen bereit, bevor er die Schmerzen spürte. So schnell wollte er sich nicht geschlagen geben!
Doch ehe er sich mit Händen und Füßen abstützen konnte, wurden sie unter ihm weggetreten. Als er ein zweites Mal auf dem
Boden landete, spürte er, wie sich ein Fuß in seinen Rücken stemmte und ihn festhielt. Sein strampelndes Bein wurde umklammert, ebenso sein rechter Arm, und Ashan zog so fest an seinen Gliedmaßen, dass sie aus den Gelenken zu springen drohten.
Jardir schrie, und vor Schmerzen verschwamm alles vor seinen Augen. Er umarmte seine Qualen, und als sich sein Blick wieder klärte, sah er flüchtig eine dama’ting , die ihn aus dem dunklen Bogengang, der in den Korridor führte, beobachtete.
Sie schüttelte ihren durch Schleier verhüllten Kopf und entfernte sich.
Tief im Inneren des Sharik Hora konnte Jardir die Nacht vom Tage nicht unterscheiden. Er schlief, wenn die dama ihm sagten, dass Schlafenszeit war, er aß, wenn sie ihm Speisen gaben, und ansonsten tat er das, was sie ihm befahlen. Außer den Geistlichen wohnten in dem Tempel auch eine Handvoll dal’Sharum , die zu kai’Sharum ausgebildet wurden, doch der einzige nie’Sharum , der hier Aufnahme gefunden hatte, war er. Er war der Geringste unter den Geringsten, und wenn er daran dachte, dass die anderen Jungen, die früher auf sein Kommando gehört hatten, Shanjat und Jurim und alle übrigen, vielleicht schon sehr bald in die Kriegerkaste aufsteigen würden, fühlte er sich von Scham schier überwältigt.
Während des ersten Jahres folgte er Ashan wie sein Schatten. Ohne ein Wort brachte der nie’dama ihm bei, was er brauchte, um in der Gemeinschaft der Geistlichen zu überleben. Wann er beten musste, wann er sich hinknien sollte, wie man sich verneigte und wie man kämpfte.
Jardir hatte das kämpferische Geschick der dama gewaltig unterschätzt. Es mochte ihnen verwehrt sein, zum Speer zu greifen, aber selbst der unbegabteste von ihnen wog in der Kunst des waffenlosen Nahkampfs zwei der tüchtigsten dal’Sharum auf.
Aber vom Kämpfen verstand Jardir etwas. Er stürzte sich in das Training, und während der endlos ineinanderfließenden Übungsformen vergaß er seine Schande. Selbst nachts, wenn die Lampen gelöscht waren, übte Jardir stundenlang in seiner dunklen, winzigen Zelle die sharukin .
Nachdem die Gerber Moshkamins Haut abgeholt hatten, nahmen Jardir und Ashan den Körper und kochten ihn in Öl. Dann fischten sie die Knochen heraus und bleichten sie auf den Spitzen der beinernen Minarette, die in den Wüstenhimmel hineinstachen, in der Sonne. Die Jiwah’Sharum hatten über seinem Leichnam drei Tränenfläschchen gefüllt, und deren Inhalt wurde mit dem Lackfirnis vermischt, mit dem die Knochen überzogen wurden, ehe man sie den Handwerkern übergab. Moshkamins Gebeine und die Tränen der Frauen, die um ihn trauerten, würden die prachtvolle Herrlichkeit des Sharik Hora mehren, und Jardir sehnte den Tag herbei, an dem auch er eins würde mit dem heiligen Tempel.
Doch es gab auch andere Pflichten, die nicht so rühmlich waren und ihn weniger zufriedenstellten. Jeden Tag verbrachte er Stunden damit, zu lernen, wie man auf Papier sprach; mit einem Stock kopierte er
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