Das Flüstern der Stille
heraussuchen, das sie auf Flugblätter drucken können. Ich werde die Bilder der Mädchen zum Polizeirevier bringen. Sie werden die Handzettel für uns drucken, und dann werde ich versuchen, Leute zu finden, die uns helfen, sie zu verteilen.“
Fielda streckt ihre Arme nach mir aus und umarmt mich. „Was machen wir denn nur?“, weint sie leise.
„Wir werden sie finden, Fielda. Wir finden Petra und bringen sie nach Hause. Ich verspreche es.“ Einen Moment stehen wir da, lassen das Gewicht meines Versprechens in unser Hirn sacken, bis Fielda schließlich einen Schritt nach hinten tritt.
„Du machst die Handzettel“, sagt sie mit fester Stimme. „Ich werde die Leute anrufen. Ich fange bei A an und arbeite mich dann durch das Alphabet.“ Sie gibt mir einen Abschiedskuss, und ich drücke ihre Hand, bevor ich die Tür schließe.
Als ich die Straßen meiner Stadt entlangfahre, suchen meine Augen jeden Zentimeter des Bürgersteigs ab, suchen nach Petra. Ich versuche, in Fenster zu schauen, und verrenke mir den Hals, um einen Blick in Gärten werfen zu können; mehr als einmal bin ich kurz davor, von der Straße abzukommen. Als ich vor dem Polizeirevier anhalte, zittern meine Beine, und mit weichen Knien trete ich durch die Tür. Ich stelle mich einem Mann am Empfang vor. Als er mich anschaut, versuche ich, in seinen Augen zu lesen, was er von mir denkt. Verdächtigt er mich? Tue ich ihm leid? Ich kann es nicht sagen.
„Ich werde die Flugblätter gleich für Sie vorbereiten, Mr. Gregory“, sagt er und lässt mich allein.
Jetzt, in der Geborgenheit meines Büros am St. Gilianus, ist die Erinnerung an jeden schmerzvollen Moment des Tages wie ein Dolchstoß in mein Gehirn. Ich kann mich nicht konzentrieren. Von dem Stapel Papiere vor mir auf dem Schreibtisch sieht mich das Gesicht meiner wundervollen Tochter an. Beinah kann ich Petras Anwesenheit in dem Raum spüren. Petra liebt es, unter meinem großen Walnusstisch zu sitzen. Da spielt sie mit ihren Puppen, die sie in einer großen Segeltuchtasche, auf die ihr Name gemalt ist, mit sich herumträgt. Während ich mich um meinen Papierkram kümmere, kann ich den komplizierten Gesprächen lauschen, die ihre Puppen miteinander führen, und bei dem Gedanken lächle ich. Petra liebt es, alles über die mysteriöse Geschichte des Colleges zu lernen. Sie geht mit mir durch die Gebäude, Sonnenlicht scheint durch die juwelenfarbenen Buntglasfenster, die die Heiligen und Märtyrer der katholischen Kirche darstellen. Sie lässt mich oft vor dem Fenster des heiligen Gilianus anhalten, des Namensgebers des Colleges. In brillanten Nuancen von Safran, Lapislazuli, Kupfer und Jade erzählt der Künstler die Geschichte von Gilianus’ Leben, ein alter Mann in einer braunen Kutte, der eine Rollenschrift hält und von einem großen Bären und einer Schar Amseln flankiert wird. Ich erzähle ihr immer wieder von St. Gilianus, auch als St. Gall oder St. Callo bekannt, ein irgendwann im sechsten Jahrhundert in Irland geborener Mann. Die Legende besagt, dass Gilianus, ein Eremit, einen Bären beauftragte, ihm und seinem zurückgezogenen Clan Feuerholz in den entlegenen Wald zu bringen, und der Bär tat wie ihm geheißen. Ich beschreibe ihr die Sage, wie König Sigibert von Austrasien – heutzutage nordöstliches Frankreich und westliches Deutschland – Gilianus anflehte, seine ihm versprochene Braut von Dämonen zu befreien. Gilianus kam seiner Bitte nach und befreite die gequälte Frau von Dämonen, die sie in Form von Amseln verließen. Petra fröstelt bei dieser Geschichte jedes Mal vor Entzücken und reibt den kleinen Notenanhänger an ihrer Kette mit nervösen Fingern.
Meine Kollegen statten mir immer Besuche ab, wenn sie wissen, dass Petra da ist. Sie fragen sie nach der Schule und nach ihren Freunden, und sie malt ihnen Bilder, die sie in ihren Büros aufhängen. Meine Studenten sind von Petra ebenso verzaubert; sie merkt sich die Namen aller, die sie hier bei mir trifft. Im letzten Winter kam ein verzweifelter Student überraschend in mein Büro, als Petra fröhlich unter dem Tisch spielte. Der junge Mann, normalerweise selbstbewusst und charmant, war den Tränen nahe, weil er sich Sorgen machte, ob er den Abschluss in der ihm verbleibenden Zeit schaffen würde. Er konnte sich nicht auf seine Studien konzentrieren und musste einen weiteren Nebenjob finden, um seine Studiengebühren und die Miete zahlen zu können.
„Lucky“, sagte ich zu ihm, „du hast zurzeit zu viel auf
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