Das Flüstern der Stille
warum sie sie nicht wieder freigelassen hat“, ergänzt Mom.
„Vielleicht hat sie sich die Wünsche für irgendetwas richtig Großes aufgespart und wollte sie dann alle zusammen freilassen.“
Nun ist es meine Mutter, die mit den Schultern zuckt. Sie legt das fluffige Bündel wieder in die Schatzkiste zurück, ganz obendrauf, dann schließt sie den Deckel und schiebt die Kiste unter ihr Bett.
„Komm, Ben“, sagt sie. „Ich mach dir ein Sandwich. Louis wird bald hier sein.“
Ich habe eine Ahnung, was du dir gewünscht hättest, denn es sind die gleichen Wünsche wie meine. Erstens – dass du wieder sprichst. Zweitens – einen Hund. Drittens – dass Dad wieder nach Alaska geht und nie mehr zurückkommt. Gott weiß, dass du das niemals zugeben würdest, und ich auch nicht, aber das wären deine Wünsche. Das weiß ich.
Antonia
Während ich Ben und mir ein Schinkensandwich mache und einen Apfel schneide, denke ich an Callis Schatzkiste. Die Pusteblumensamen erinnern mich an Louis, als wir noch Kinder waren.
In dem Sommer, nachdem Louis hierhergezogen war, gingen wir in den Garten hinter meinem Haus, demselben Haus, in dem ich jetzt wohne. Unser Rasen war übersät mit fröhlichem gelbem Löwenzahn, und meine Mutter zahlte uns für jeden, den wir mit der Wurzel ausgruben, einen Penny. Das war keine einfache Aufgabe. Wir hatten alte Löffel, mit denen wir so tief unter die Wurzel gruben, wie wir konnten, und die herausgezogenen Pflanzen schmissen wir in einen alten Eimer. Ungefähr hundert Stück schafften wir am Tag. Meine Mutter gab uns einen Dollar, einen schimmernden Quarter für jede unserer schmutzigen Hände, und wir sprangen auf unsere Fahrräder und fuhren in die Stadt ins Mourning Glory Café, um unseren Verdienst auszugeben. Ich kaufte uns eine Cherry Coke, nicht aus der Dose, wie sie heute verkauft wird, sondern eine direkt aus der Sodamaschine, wo der Kirschsaft extra hineingespritzt wird. Mrs. Mourning hat immer zwei Strohhalme ins Glas gesteckt und zwei Kirschen, eine für Louis und eine für mich. Louis hat uns einen Korb Pommes frites gekauft, ganz heiß und schön salzig. Mit Ketchup schrieb er dann meinen Namen auf die Pommes frites und direkt darunter seinen. Die Pommes frites mit meinem Namen drauf waren meine, die mit seinem Namen seine. An manchen Tagen haben wir uns auch jeder einen Schokoriegel gekauft. Ich hab immer einen Marathon genommen und er einen Baby Ruth. Petras Mutter, Fielda, war oft im Café, um ihrer Mutter zu helfen. Freundlich und nett stand sie hinter dem Tresen und beobachtete, wie wir vorsichtig unser Glas nachfüllten. Im Rückblick kann ich erkennen, dass Fielda meine Freundin sein wollte, aber ich hatte Louis, und, na ja, er war alles, was ich brauchte, was ich wollte. Jahre später, als wir Nachbarn geworden und zur gleichen Zeit mit unseren Mädchen schwanger waren, versuchte es Fielda erneut, lud mich zum Kaffee zu sich ein, auf Spaziergänge, aber wieder war ich unnahbar, dieses Mal jedoch aus komplett anderen Gründen. Ich hatte Angst, dass sie etwas von meiner traurigen Ehe mitbekommen könnte, mich und meinen Mann zu einem schlechten Zeitpunkt erwischen, meine blauen Flecken sehen würde. Irgendwann hatte sie aufgegeben und mich in Ruhe gelassen, genau wie damals, als wir jung waren.
Unsere Löwenzahnaktion dauerte meist um die zehn Tage. Dann wurde es uns langweilig, und wir hatten auch genug von Cherry Coke und Pommes frites. Von unseren Anstrengungen war im Garten allerdings nichts zu sehen. Der Löwenzahn fing an, seine Samen zu streuen, und die weißen Flocken wirbelten durch die Luft, machten alles zunichte, was wir erreicht hatten.
„Weißt du“, hatte Louis mir gesagt, „das sind in Wirklichkeit Feen.“
„Ja, sicher“, erwiderte ich nicht überzeugt.
„Wirklich. Mein Dad hat es mir erzählt. Er hat gesagt, dass die Pusteblumensamen verwunschene Feen sind. Wenn man einen fängt, bevor er den Boden berührt, ist die Fee so dankbar, wenn du sie wieder freilässt, dass sie dir einen Wunsch erfüllt.“
Ich hatte mich aufgesetzt und meinen schmutzverkrusteten Löffel zur Seite gelegt. Das interessierte mich. Louis sprach nie über seinen Vater, niemals. „Ich wusste nicht, dass es in Chicago auch Blumen gibt.“
„Ja, es gibt Blumen und Gräser und Unkraut in Chicago“, sagte er entrüstet. „Nur nicht so viel wie hier. Mein Vater sagte immer: ‘Wenn Feen in der Luft tanzen, streck vorsichtig die Hand aus und fang dir eine. Wünsch
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