Das Flüstern der Stille
Weißt du, was eine Untersuchung ist?“, fragt Molly. Calli nickt ganz leicht. „Oh, natürlich weißt du das. Wie alt bist du? Sechzehn, siebzehn?“ Calli lächelt und schüttelt den Kopf, hält sieben Finger hoch.
„Sieben?“, fragt Molly. „Das überrascht mich ja. Du wirkst so viel älter.“ Calli lächelt wieder. Ich mag diese Molly sofort. „Ich werde deinen Körper jetzt von der Spitze deines Kopfes bis zu deinen kleinen Zehen untersuchen und dich dabei fragen, ob dir irgendetwas wehtut. Du sagst mir einfach Ja oder Nein, okay?“ Calli nickt.
„Ich sehe schon, du bist eine Superpatientin. Okay, fangen wir an. Als Erstes: Tut dir dein Haar weh?“ Calli kräuselt die Nase und schaut Molly ungläubig an. „Und, tut es?“, fragt sie noch einmal.
Calli schüttelt den Kopf.
„Gut! Das sind hervorragende Neuigkeiten. Wie sieht es mit deinem Kopf aus. Tut es dir irgendwo am Kopf oder Hals weh?“ Calli schüttelt wieder den Kopf. Ich kann sehen, dass ihr das Spiel gefällt, und als Molly an Callis Zehen ankommt, haben wir erfahren, dass die einzigen Stellen, die Calli wehtun, ihr Magen und ihre Füße sind.
Molly erklärt mir leise, dass sie nun noch Spuren an Callis Körper sammeln muss. Als sie etwas von Untersuchung auf Vergewaltigung sagt, wird mir beinah übel.
„Ist das wirklich nötig?“, frage ich wie betäubt.
„Wir müssen jegliche Art von Missbrauch ausschließen, der vielleicht passiert ist, und wir müssen alle Spuren sammeln, die eventuell hinterlassen worden sind. Ich werde sehr vorsichtig sein. Und Sie können hier bei ihr bleiben“, versichert Molly mir, während sie sich Latexhandschuhe überstreift.
Molly nimmt sich ein überlanges Wattestäbchen und bittet Calli, den Mund weit zu öffnen. Schnell fährt sie mit dem Stäbchen an Callis Wange entlang, und mich überfallen die grausamsten Gedanken. Ich versuche, sie zur Seite zu schieben. Sehr methodisch und vorsichtig nimmt Molly sich den Körper meiner Tochter vor, kämmt, schabt und sammelt den Schmutz und die Ungeheuerlichkeiten des Tages ab. Ich zwinge mich hinzuschauen, mit anzusehen, was meine Unaufmerksamkeit für Folgen hat. Ich zwinge mich jetzt dazu, weil ich mein Kind nicht sorgfältig genug im Auge behalten habe; sie hat den Tag im Wald verbracht und ist vor etwas Fürchterlichem davongelaufen. Hat er sie erwischt, oder war sie schnell genug? Bitte lass sie schnell genug gewesen sein, wiederhole ich immer und immer wieder im Stillen. Als die Untersuchung endlich beendet ist, habe ich jede Falte im Gesicht meiner Tochter erforscht, ihre Verwirrung und die unausgesprochenen Fragen. Ich habe keine Worte für Calli. Mir fällt kein einziges sinnvolles, beruhigendes Wort für meine Tochter ein, mit der ich diesen Einbruch in ihre Privatsphäre mildern könnte, und so schweigen wir beide.
„Ich sehe keine offensichtlichen Spuren von sexuellem Missbrauch, aber wir werden die Proben trotzdem ins Labor schicken; dort wird man es uns mit Sicherheit sagen können.“ Ich schließe meine Augen und atme tief ein. Vielleicht ist alles gut. Molly fährt fort. „Ihre Füße sind schlimm zerschnitten. Nachdem wir sie geröntgt haben, werden wir sie säubern und fest verbinden“, erklärt sie mir. An Calli gewandt sagt sie: „Du wirst dich bestimmt viel besser fühlen, wenn du ein Bad genommen hast, oder, Calli? Nach dem Röntgen besorgen wir dir auch was Leckeres zu essen. Klingt das gut?“ Calli nickt. Ich hoffe immer noch, dass sie mit Worten antworten wird, aber sie tut es nicht. Ich muss geduldig sein. Zumindest weiß ich jetzt, dass sie sprechen kann, wenn sie wirklich muss, und an dieser Tatsache halte ich mich fest.
Molly trägt Calli zu einer Trage, und gemeinsam schieben wir sie zum Röntgen. Als wir am Eingang zur Notaufnahme vorbeikommen, fällt mir auf, dass die Nacht endgültig hereingebrochen ist, und ich denke wieder an Ben und Petra auf dem Felsen. Ich halte kurz am Empfangsschalter an und frage, ob sie etwas von Ben gehört haben. Die Frau hinter dem Tresen sagt mir, dass Ben bald eintreffen wird.
„Er kommt im Polizeiwagen, weil keine Notwendigkeit bestand, ihn im Krankenwagen mitzunehmen. Das sind erfreuliche Nachrichten“, informiert sie mich. „Es muss ihm ziemlich gut gehen, Mrs. Clark.“
Eine Welle der Erleichterung erfasst mich. „Das sind gute Neuigkeiten. Kann jemand mich rufen, wenn er hier ist? Ich bin mit Calli beim Röntgen.“
„Klar, machen wir. Und wenn Sie später ein paar Minuten
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