Das Fluestern des Todes
des Schusses und war überrascht, dass ein Geräusch so erbarmungslos klingen konnte. Als sie sich wieder gefangen hatte, schaute sie zu Novakovic hinunter. Er lag auf dem Rücken. Durch die Handschellen hatte sich sein Körper unnatürlich nach vorne gewölbt, sodass er sich unter dem T-Shirt abzeichnete. Er erinnerte sie an eine von Michelangelos Skulpturen, die sie in Italien gesehen hatte – einen sterbenden Sklaven. Doch dieses Gesicht hier, deformiert und blutüberströmt, hatte mit einem menschlichen Antlitz keine Ähnlichkeit mehr.
Das Wissen, dass mit Novakovic nun derjenige ausgelöscht worden war, der die letzten Momente ihrer Familie miterlebt hatte, gab ihr eine größere Genugtuung, als sie gedacht hatte. Aber insgeheim wusste sie auch, dass ihr innerer Zwiespalt eine Selbsttäuschung gewesen war, dass es zwischen ihrem Wunsch nach Gerechtigkeit und ihren Rachegelüsten nie einen wirklichen Konflikt gegeben hatte.
Sie hatte immer beides gewollt. Sie wollte Gerechtigkeit für ihre Familie, aber ihre Instinkte hatten nach Rache geschrien. Beide Gefühle waren kausal miteinander verbunden, beide hatten ein gemeinsames Ziel. Auch wenn ihr bewusst war, dass sie das Gesetz gebrochen hatte, war sie doch davon überzeugt, das Richtige getan zu haben.
Novakovic war tot, doch sie spürte noch immer das unkontrollierbare Verlangen, ihn zu treten, ihn zu bespucken oder das zu tun, was Lucas gerade getan hatte: eine Kugel in seinen Körper zu jagen. Ein Teil von ihr war neugierig, was sie dabei wohl empfinden würde, aber vor allem wollte sie diesen ersten Akt der Rache wirklich für sich reklamieren. Sie fühlte eine Mischung aus Scham und Aufregung bei der Vorstellung, aber sie wollte sein Blut an ihren Händen kleben sehen.
Lucas stand neben ihr, die Pistole noch immer in der Hand. Sie streckte ihren Arm aus. »Dürfte ich?«
Er wirkte irritiert und schaute noch einmal auf den Körper vor ihm, als wolle er sich vergewissern, dass er wirklich tot war. Dann gab er ihr die Waffe. Sie hielt die Pistole in beiden Händen und zielte auf das blutige Etwas, das einmal Novakovics Kopf gewesen war. Sie schloss ihre Augen, als sie langsam den Abzug betätigte, zwang sich dann aber doch, sie wieder zu öffnen.
Der Knall und der Rückstoß ließen sie zusammenzucken, und sie war sich nicht einmal sicher, ob sie ihn überhaupt erwischt hatte. Da sein Gesicht unverändert schien, drehte sie sich zu Lucas um: »Hab ich ihn getroffen?« Er nickte und streckte seinen Arm aus, um ihr die Waffe aus der Hand zu nehmen. »Danke. Ich kann mir vorstellen, dass das alles sehr krank wirken muss, aber …« Ihr war plötzlich schwindelig – als sei ihr Blutzucker rapide gesunken. Sie bemühte sich, die Fassung wiederzufinden. Lucas sollte nicht den Eindruck bekommen, dass ihre Erregung etwas mit Novakovics Tod zu tun hatte. »Ich musste einfach.« Mehr brachte sie nicht über die Lippen.
»Verstehe.« Er steckte die Pistole weg und ging hinaus. »Bitte mich nie wieder um so etwas«, sagte er, als sie im Auto saßen.
»Ich dachte, deshalb sind wir überhaupt hier. Und ich habe Sie auch nicht gebeten, es für mich zu tun, sondern für meine Familie.«
»Mag ja sein, aber tu das trotzdem nie wieder. Ich will niemanden mehr töten.« Er ließ den Wagen an und fuhr los.
»Aber was passiert, wenn wir die Person finden, die …«
»Dann werde ich eine Ausnahme machen, aber nur dieses eine Mal. Das hier ist Rache und keine Therapie. Wenn du etwas ausschwitzen musst, solltest du in ein Fitnessstudio gehen.«
»Tut mir leid.« Sie war sich nicht sicher, wofür sie sich überhaupt entschuldigte, fühlte sich aber unwohl bei dem Gedanken, dass sie sein Missfallen erregt hatte. Sie wusste zwar nicht, was er von ihr erwartet hatte, empfand es aber als Versagen, ihn enttäuscht zu haben.
»Sie waren ziemlich zufrieden, als er erwähnte, wer den Mordanschlag organisiert hat«, sagte sie, um das Gespräch auf andere Bahnen zu lenken.
»Bruno Brodsky. Ein Mittelsmann aus Budapest. Einige dieser Leute sind aalglatt, aber ich kenne Bruno seit vielen Jahren. Er wird uns alles erzählen, was er weiß.«
»Dann fliegen wir also nach Budapest?«
»Du nicht. Ich dachte, du willst den Killer.« Er lachte trocken. »Meine Güte, du hast es ja kaum erwarten können. Aber Bruno wird dich kaum interessieren.«
»Vielleicht ja doch. Ich will mit. Sonst sitze ich nur hier herum und ziehe die falschen Schlüsse. Ich möchte hören, was er zu sagen hat,
Weitere Kostenlose Bücher