Das Fluestern des Todes
Tages entgleiten würden.
Sie war sich nicht sicher, wie lange sie dort gestanden hatte – fünfzehn Minuten vielleicht –, als sie bemerkte, dass sich noch eine andere Person auf dem Friedhof aufhielt. Sie drehte sich um und erwartete, jemanden zu sehen, der ein anderes Grab besuchte. Stattdessen sah sie zwanzig Meter hinter sich ein Mädchen, das sie anstarrte.
Sie trug Jeans und einen kurzen Dufflecoat und hatte einen Strauß roter Nelken in der Hand. Sie schien in Bens Alter zu sein und war ausnehmend hübsch. Als sie merkte, dass Ella sie entdeckt hatte, sah sie sich nervös um und schien wieder gehen zu wollen.
»Hallo«, sagte Ella.
Das Mädchen kam näher. »Tut mir leid. Ich wollte Sie nicht stören.«
»Überhaupt nicht. Komm doch näher. Ich bin Ella Hatto, Bens Schwester.« Sie deutete auf die Blumen. »Und ich vermute mal, dass du wegen der gleichen Person gekommen bist.«
»Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen. Ich war mit ihm auf der Schule. Wir waren Freunde.«
»Ich habe überhaupt nichts dagegen. Ich freue mich, dass noch jemand anders an ihn denkt.«
»Oh, das tun noch viele von uns. Aber ich glaube nicht, dass sonst noch jemand hierherkommt, weil …« Sie schien nicht so recht zu wissen, wie sie den Satz zu Ende bringen sollte. »Entschuldigen Sie, ich bin Alice Shaw.«
»Warst du und Ben …?«
»Nein.« Sie klang entschlossen, auch etwas verlegen. »Ich mochte ihn sehr. Einige Leute meinten, dass er mich auch mochte, aber wir waren nie … Es hat keinen Sinn, darüber noch zu spekulieren. Wir waren Freunde.« Sie schien ihre Gefühle kaum noch im Griff zu haben.
»Ich bin mir sicher, dass er dich gemocht hat, absolut sicher.«
Alice lächelte, doch ihre Augen füllten sich mit Tränen. Als eine davon ihre Wange herunterkullerte, wischte Alice sie schnell weg. »Tut mir leid.«
»Das braucht dir nicht leidzutun.« Ella trat einen Schritt nach vorne, nahm sie in den Arm und war überrascht, wie vehement sich Alice an ihr festklammerte, wie hemmungslos die Tränen flossen – als habe sie zum erstem Mal die Gelegenheit, ihren Verlust angemessen zu betrauern.
Sie ahnte, dass ihr Verlust vielleicht noch größer war als ihr eigener. Sie dachte an James Joyce und seine Erzählung Die Toten , in der Greta Conroy der lange verflossenen Liebe ihrer Jugend nachweint, und dann dachte sie an Lucas und fragte sich, ob er das Buch je gelesen hatte.
Sie sprachen zwanzig Minuten über ihre Erinnerungen an Ben, dann gingen sie gemeinsam zum Parkplatz. Als sie schließlich wieder im Auto saß, versuchte Ella, ihre Gedanken und Gefühle halbwegs zu ordnen. Es war ein emotionales Labyrinth, das sie nun fast jeden Tag beschäftigt hielt – und aus dem es nur einen plausiblen Ausweg zu geben schien: Rache.
In den ersten Monaten war diese Inbrunst auf die schemenhafte Figur fixiert gewesen, die ihre Familie ausradiert hatte. Diese Gestalt hatte nun konkrete Formen angenommen, hatte einen Namen und auch ein Gesicht, das ihr nur allzu gut vertraut war. Das Verlangen nach Rache war ungebrochen, doch ihre Entschlossenheit war inzwischen eher noch stärker.
Und sie hatte noch etwas anderes gelernt. Wenn sie an Ben und Alice dachte, wenn sie sich vorstellte, wie sich ihre Beziehung entwickelt hätte – und alles andere, das die Zukunft für ihn bereitgehalten hätte –, verstand sie zum ersten Mal das wahre Ausmaß der Tat, die sie nun zu rächen gedachte.
Der Schmerz, den er ihr zugefügt hatte, war nicht nur ihr individueller Schmerz, sondern auch der von Alice Shaw, es war der kollektive Schmerz über den, der dort auf dem Friedhof begraben lag. Und selbst wenn es das Letzte gewesen sein sollte, was sie in ihrem Leben tat: Sie würde dem Mörder diesen Schmerz zurückgeben, Auge um Auge, Zahn um Zahn.
NEUNZEHN
Der Tag wollte nicht vergehen, das Warten wurde von Stunde zu Stunde unerträglicher. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Sechs Monate hatte sie nun gewartet, und doch schien dieser letzte Tag – das Ziel war zum Greifen nahe – der allerschwerste zu sein. Sie hatte den Eindruck, als würde ihr Herz langsamer schlagen, als wäre es kein Blut, das durch ihre Venen gepumpt wurde, sondern dickflüssiger Sirup.
Dan war wie immer völlig entspannt. Er saß mit einem Drink auf der Terrasse und schien sich in einen meditativen Trance-Zustand verabschiedet zu haben. Sie war erleichtert, als er sich am Nachmittag endlich aufgerafft und seine Position am Anlegesteg bezogen hatte.
Eine
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