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Das Flüstern des Windes (German Edition)

Das Flüstern des Windes (German Edition)

Titel: Das Flüstern des Windes (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Wekwerth
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Tränen aus, und Karem bereute seine Gehässigkeit sofort. Sein persönliches Unglück gab ihm kein Recht, andere zu verletzen.
    »Meine Mutter ist tot«, schluchzte die Kleine. »Ein böser Mann hat sie geschlagen.«
    Karem rückte ein wenig näher. Seine Eisenkette ließ ihm genug Spielraum und als er den Arm ausstreckte, konnte er sie berühren. Sanft fuhr er mit der Hand über ihr weiches Haar.
    »Es tut mir leid! Ich wollte dir nicht weh tun!«, flüsterte er.
    Sie hob den Kopf. Karem sah, dass ihre großen, braunen Augen in Tränen schwammen. Ihr kleiner Körper zitterte.
    »Wo ist dein Vater?«, fragte er sanft.
    »Er war auf der Jagd, als die bösen Männer kamen. Ich weiß nicht, wo er ist, aber er wird kommen und mich holen.« Sie schniefte trotzig.
    »Das wird er ganz bestimmt«, bestätigte Karem. »Aber bis dahin musst du tapfer sein, und jetzt ist es genug mit dem Weinen.«
    »Ich wollte ja gar nicht weinen. Es kam einfach so.«
    »Das verstehe ich.«
    Sie warf ihre langen, lockigen Haare in einer anmutigen Geste zurück, die sein Herz erwärmte.
    »Wo sind deine Eltern?«, wollte sie wissen.
    Karems Gesichtszüge versteinerten.
    »Sie sind tot! Mein Bruder und meine Schwester auch!«
    »Oh!«
    Die kleine Hand des Mädchens streichelte seinen Arm.
    »Du kannst ruhig weinen. Ich werde es niemandem sagen.«
    Karem wischte sich mit dem Ärmel seines Hemdes die aufsteigenden Tränen aus den Augenwinkeln.
    »Danke, aber es geht schon.«
    »Wie heißt du?«
    »Karem. Und du?«
    »Lelina.«
    »Das ist ein schöner Name.«
    Sie gluckste glücklich. Karem beneidete sie. Eben noch war sie todtraurig gewesen, und nun reichte ein kleines Kompliment, um ihr ein Lächeln abzuringen.
    Plötzlich polterte es laut im Schiffsrumpf. Die Köpfe der Gefangenen ruckten hoch, als das Boot erzitterte und ins Schwanken geriet.
    »Was ist das?«, fragte Karem, aber bevor Lelina ihm antworten konnte, waren Schritte zu hören, die hastig die Treppe in den Schiffsbauch hinunterstürmten.
    Befehle wurden geschrien. Ein zorniges, wildes Brüllen war die Antwort. Peitschenhiebe donnerten.
    Karem konnte nicht sehen, wer da geschlagen wurde, er befand sich in einem anderen Raum, aber er konnte deutlich hören, wie das Leder der Peitsche auf die Haut des fremden Gefangenen knallte. Kurz darauf herrschte wieder Ruhe. Die Aufseher zogen sich fluchend zurück.
    Lelina war bleich geworden. Trotz des schlechten Lichts konnte Karem sehen, wie alles Blut aus ihrem Gesicht gewichen war. Ihre Augen zuckten unruhig.
    »Was war das? Was war das für ein Brüllen?« Karem hatte das Mädchen an den Schultern gefasst und zwang sie, ihn anzusehen.
    »Ein Monster ... ein Monster«, stammelte Lelina.
    »Was für ein Monster?«
    »Das weiß ich nicht! Sie haben es einen Tag nach uns auf das Schiff gebracht. Ich habe es nicht gesehen, aber es schreit und brüllt oft. Das ist kein Mensch! Niemand kann solche Geräusche machen!«
    Karems Neugier war nun geweckt. Was mochte das für ein Wesen sein, das sie abgesondert von den menschlichen Gefangenen eingesperrt hatten.
    Er legte sein Ohr auf das warme Holz der Bordwand und lauschte.
    Ein tiefes Schnauben war zu hören. Als er vorsichtig mit den Fingerknöcheln gegen das Holz klopfte, erklang ein kehliges, unheimliches Knurren. Hastig zog er die Hand zurück.
    »Lass das lieber!«, meinte Lelina eindringlich. »Wenn die Männer merken, dass du das Monster reizt, kommen sie herunter und schlagen dich!«
    Karem lehnte sich mit dem Rücken gegen die Planken. Die Eisenschelle um seinen Hals schnitt in sein Fleisch, und er hatte Mühe, ausreichend Luft zu bekommen.
    Eine Weile herrschte Schweigen. Nur das Klirren der Ketten und der keuchende Atem der Gefangenen waren zu hören. Karem dachte schon, Lelina wäre eingeschlafen, aber plötzlich fragte sie: »Weißt du, wo sie uns hinbringen?«
    Er nickte. »Nach Omrak.«
    »Ist das weit weg?«
    Er hatte nicht den Mut, ihr zu sagen, dass Omrak eine andere Welt war. Unendlich weit entfernt von Thuur, also log er: »Nein! Nicht so weit!«
    Das Mädchen sank mit einem glücklichen Lächeln zurück, das er mehr ahnte, als sah.
    »Gut!«, flüsterte sie. »Dann wird mich mein Vater finden!«
    »Das wird er ganz bestimmt!«, bestätigte Karem. »Und nun versuch, ein wenig zu schlafen, wenn dein Vater kommt, musst du ausgeruht sein. Ihr habt einen langen Rückweg vor euch.«
    Ihre Ketten klirrten, als sie näher rutschte.
    »Darf ich mich an dich anlehnen?«, fragte sie

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