Das fremde Gesicht
aber den Salat, das Brötchen und den Kaffee. Ihr Kopf wurde allmählich klarer. Sie holte sich einen Schreibblock aus ihrer Umhängetasche und begann bei einer zweiten Tasse Kaffee, sich Notizen zu machen.
Jenes Stück Papier mit ihrem Namen und ihrer Telefonnummer darauf hatte Annies Auseinandersetzung mit Frances ausgelöst, ihre Forderung, die Wahrheit zu erfahren. Frances hat gesagt, daß Annie mich anrief und einhängte, als ich mich meldete, dachte Meghan. Wenn sie doch bloß mit mir geredet hätte. Dann wäre sie womöglich nie nach New York gekommen. Dann würde sie vielleicht noch leben.
Kyle hatte Annie offensichtlich gesehen, als sie in Newtown herumgefahren war. Hatte sie sonst noch jemand dort gesehen?
Ich wüßte gern, ob Frances ihr gesagt hat, wo Dad gearbeitet hat, dachte Meghan und notierte sich die Frage.
Dr.
Manning. Frances zufolge war Dad nach dem Telefonat mit ihm am Tag, bevor Dad dann verschwand, ganz erregt gewesen. Den Zeitungen zufolge behauptete Dr. Manning, das Gespräch sei freundlich verlaufen. Was hat Dad dann so aufgeregt?
Victor Orsini. War er der Schlüssel zu all dem? Laut Frances war Dad wegen etwas, was er über ihn herausgefunden hatte, völlig entsetzt gewesen.
Orsini. Meghan unterstrich seinen Namen dreimal. Er hatte seine Stelle um die Zeit herum angetreten, als Helene Petrovic der Manning Clinic als Kandidatin empfohlen wurde. Gab es da einen Zusammenhang?
Das letzte, was Meghan aufschrieb, waren drei Wörter.
Lebt Dad noch?
Das Flugzeug landete pünktlich kurz nach acht Uhr. Als Meghan den Sicherheitsgurt aufschnappen ließ, schloß die Frau am Gang ihr Buch und wandte sich ihr zu. »Jetzt ist es mir wieder eingefallen«, sagte sie befriedigt. »Ich bin eine Reiseagentin, und ich weiß, daß man jemand, der keine Lust hat zu reden, auch nicht stören sollte. Aber ich wußte einfach, daß ich Sie schon mal irgendwo gesehen hab’. Es war auf einer Konferenz vom ASTA, vom Amerikanischen Reiseverband, in San Francisco letztes Jahr. Sie sind doch Annie Collins, die Reisejournalistin, stimmt’s?«
Bernie saß an der Bar, als Catherine beim Verlassen des Gasthofs einen Blick hineinwarf. Er sah sie im Spiegel, wandte jedoch sofort den Blick ab und griff nach der Speisekarte, als sie in seine Richtung schaute.
Er wollte nicht, daß sie ihn bemerkte. Es war nie eine gute Idee, wenn Leute einem besondere Aufmerksamkeit schenkten. Sie fingen dann vielleicht an, Fragen zu stellen.
Schon von dem flüchtigen Eindruck im Spiegel konnte er sich zusammenreimen, daß Meghans Mutter wie eine smarte Dame aussah. Ihr konnte man nicht allzuviel vormachen.
Wo war Meghan? Bernie bestellte noch ein Bier, fragte sich dann, ob ihn nicht Joe, der Barkeeper, allmählich mit dieser Art Gesichtsausdruck ansah, wie ihn die Cops hatten, wenn sie ihn anhielten und sich erkundigten, was er vorhabe.
Man brauchte dann nur zu erklären: »Ich hänge bloß so herum«, und sie überschütteten einen mit ihren Fragen.
»Warum?«
»Wen kennen Sie hier in der Gegend?«
»Kommen Sie oft hierher?«
Das waren die Fragen, von denen er nicht wollte, daß die Leute hier sie auch nur zu denken anfingen.
Wirklich wichtig war es, die Leute daran zu gewöhnen, daß sie einen sahen. Wenn man daran gewöhnt ist, jemanden die ganze Zeit zu sehen, dann sieht man ihn eigentlich gar nicht. Er und der Gefängnispsychiater hatten sich darüber unterhalten.
Eine innere Stimme warnte ihn, daß es gefährlich wäre, wenn er noch einmal in den Wald hinter Meghans Haus gehen würde. So, wie der Junge geschrien hatte, lag es nahe, daß irgendwer die Polizei benachrichtigt hatte.
Vielleicht überwachten sie die Stelle jetzt.
Wenn er aber Meghan nie bei der Arbeit über den Weg lief, weil sie vom Channel 3 beurlaubt war, und auch nicht in die Nähe ihres Hauses konnte, wie sollte er sie dann noch zu sehen bekommen?
Während er schluckweise sein zweites Bier trank, kam ihm plötzlich die Antwort, ganz leicht und einfach.
Das hier war nicht nur ein Restaurant, es war ein Gasthof. Leute übernachteten hier. Draußen gab es ein Schild, auf dem ZIMMER FREI stand. Von den nach Süden gelegenen Fenstern aus mußte man einen guten Blick auf Meghans Haus haben. Wenn er sich ein Zimmer mietete, konnte er kommen und gehen, ohne daß sich irgend jemand etwas dabei dachte. Sie würden damit rechnen, daß sein Wagen die ganze Nacht über dort stand.
Er konnte behaupten, seine Mutter sei im Krankenhaus, würde aber in ein paar
Weitere Kostenlose Bücher