Das fünfte Kind. Roman
recht behalten, auf ihrem hartnäckigen Einzelgängertum zu bestehen; sie hatten unbeirrt das Beste gewählt – dieses Leben.
Außerhalb ihres begünstigten Kreises, ihrer eigenen kleinen Familie, tobten die Stürme der Welt. Die Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs war vorüber. Davids Firma hatte Verluste erlitten, und er war nicht, wie erwartet, in eine höhere Gehaltsstufe aufgerückt; aber andere hatten ihre Stellung verloren, und so konnte er sich noch glücklich schätzen. Auch Sarahs Mann war arbeitslos. Sarah machte bittere Scherze darüber, dass sie und William, wie sie meinte, alles Unglück der Sippe auf sich zogen.
Harriet sagte zu David, unter vier Augen, sie glaube nicht daran, dass es sich um pures Unglück handle: Sarahs und Williams Uneinigkeit und ihr ewiger Streit hätten wahrscheinlich das mongoloide Kind mitverursacht … Ja, ja, schon recht, man sollte es nicht mongoloid nennen. Aber sah die Kleine nicht wirklich ein bisschen wie Dschingis Khan aus? Wie ein Dschingis-Khan-Baby mit ihrem zerknautschten Gesichtchen und den verquollenen Schlitzaugen? David missfiel dieser Zug an Harriet, ein derartiger Fatalismus passte so gar nicht zu ihrem sonstigen Wesen. Er sagte, er halte ihre Vermutung für dumm und hysterisch. Harriet war daraufhin eine Weile beleidigt, und er musste sie wieder versöhnen.
Die Kleinstadt, in der sie wohnten, hatte sich in den fünf Jahren, seit sie ihr Haus bezogen hatten, verändert. Krasse Zwischenfälle und Verbrechen, die früher noch jeden entsetzt hatten, waren nun an der Tagesordnung. Ganze Banden von Jugendlichen lungerten um bestimmte Lokale und an den Straßenecken herum und hatten vor niemandem mehr Respekt. Im Haus nebenan war schon einmal eingebrochen worden, bei den Lovatts noch nicht, allerdings war ja auch immer irgendjemand zu Hause. Das Telefonhäuschen am Ende der Straße war so oft mutwillig zerstört worden, dass die Behörden es aufgegeben hatten: Unbenutzbar stand es da. Nichts in der Welt hätte Harriet dazu gebracht, jetzt bei Nacht alleine das Haus zu verlassen. Früher, in London, wäre sie nie auf die Idee gekommen, ihr könnte auf der Straße zu irgendeiner Tages- oder Nachtzeit etwas passieren. All diese Ereignisse hatten einen üblen Beigeschmack. Immer mehr schien es, als lebten in England zwei Völker, nicht eines – Todfeinde, die einander hassten und von denen keiner auf den anderen hörte. Die jungen Lovatts zwangen sich, Zeitung zu lesen und die Fernsehnachrichten zu sehen, obwohl sich etwas in ihnen instinktiv dagegen sträubte. Doch mussten sie wenigstens wissen, was außerhalb ihrer Festung, ihres Königreichs vorging, in dem drei kostbare Kinder herangezogen wurden und in dem so viele Leute Sicherheit, Gemütlichkeit und Freundschaft suchten.
Das vierte Kind, Paul, wurde Anfang 1973 geboren. Weihnachten war vorbei, und Ostern stand bevor. Harriet ging es nicht sehr gut; ihre Schwangerschaften blieben beschwerlich und von einer Vielzahl kleinerer Probleme belastet – nie etwas Ernstes, aber sie war erschöpft.
Trotzdem gerieten die Osterfestivitäten schöner denn je. Überhaupt war dieses Jahr das beste von allen und schien ihnen später, im Rückblick, eine einzige Kette von Feiern gewesen zu sein, aus der Quelle herzlicher Gastlichkeit gespeist, deren Hüter Harriet und David waren. Das begann schon zu Weihnachten, als Harriets Schwangerschaft so beschwerlich wurde – alle bemühten sich um sie, teilten die Küchenarbeit unter sich auf und bereiteten auch weiterhin herrliche Mahlzeiten zu, und ihre Gedanken drehten sich um das kommende Baby und das nächste Osterfest, und den langen Sommer, und dann wieder Weihnachten …
Sie feierten drei Wochen lang Ostern, solange die Schulferien dauerten. Das Haus war überbelegt. Die drei kleinen Kinder, die alle ein eigenes Zimmer hatten, mussten zusammenziehen, da der Platz knapp wurde. Natürlich fanden sie das himmlisch. »Warum lasst ihr sie nicht immer zusammen schlafen?«, fragte Dorothy, fragten auch die anderen. »Solche Knirpse, und schon für jeden ein eigenes Zimmer!«
»Es ist wichtig«, erwiderte David scharf, »dass jeder von früh an seinen eigenen Bereich hat.«
Die Familie tauschte Blicke, wie es Familien eben tun, die bei einem aus ihrer Mitte einen leicht irren Zug entdecken. Nur Molly, die in Davids Haltung Verständnis für ihre eigene Situation vermutete, wenn auch nicht ganz frei von Kritik, stimmte ihm zu: »Jeder auf Erden! Jeder!« Sie gab sich
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