Das fünfte Kind. Roman
gegeben«, bemerkte Frederick.
»Ach, in England ist’s immer so eee-klig kalt«, jammerte Deborah.
James, ein wohlerhaltener, gut aussehender Mittfünfziger, in leuchtende Farben gekleidet, fast zu knallig, eigentlich für die südlicheren Gefilde, gestattete sich ein ironisches kleines Lachen durch die Nase: der abgeklärte Ältere entschuldigte sich mit einem Blick auf Molly und Frederick für die Taktlosigkeit der Jugend. »Wie auch immer«, nahm er den Faden wieder auf, »euer Familiensinn liegt mir nicht. Du irrst dich grundlegend, Harriet, mit dem, was du vorhin von ›Gehirnwäsche‹ gesagt hast. Das Gegenteil ist richtig. Früher hat man den Leuten eingeredet, die Familie sei das Höchste. Aber das ist längst überholt.«
»Wenn du das alles nicht magst, warum bist du dann hier?«, fragte Harriet, viel zu kriegerisch für eine so nette Frühstücksrunde. Sie errötete denn auch sofort und rief erschrocken: »Nein, entschuldige, so war das nicht gemeint!«
»Natürlich wissen wir, dass es nicht so gemeint war«, sagte Dorothy. »Du bist einfach übermüdet.«
»Wir sind hier, weil wir es bei euch schön finden«, meldete sich eine Cousine Davids zu Wort, die noch zur Schule ging und von ihrem Zuhause her ziemlich zerrüttete oder zumindest schwierige Verhältnisse gewohnt war, weswegen sie seit einiger Zeit all ihre Ferien bei den Lovatts verbrachte. Ihren Eltern war es sehr recht, dass sie so erfuhr, was ein intaktes Familienleben bedeutete. Sie hieß Bridget.
David und Harriet verständigten sich gerade, wie so oft, mit heimlich amüsierten Blicken und achteten nicht auf das Schulmädchen, das sie nun beinahe flehend ansah.
»Na los, ihr zwei«, sagte William, »sagt Bridget, dass sie euch immer willkommen ist!«
»Was? Was ist los?«, fragte Harriet verblüfft.
»Ihr sollt Bridget sagen, dass sie willkommen ist«, wiederholte William. »Wir alle brauchen das von Zeit zu Zeit«, fügte er auf seine theatralische Art hinzu, wobei er nicht umhinkonnte, seiner Frau einen Blick zuzuwerfen.
»Aber natürlich bist du uns willkommen, Bridget«, sagte David. Er sah Harriet an, und sie sagte sofort: »Aber natürlich!« Sie meinte, das verstehe sich doch von selbst, und die Erinnerung an Hunderte von Eheszenen bewog Bridget jetzt, David und Harriet und die ganze Familie reihum anzusehen und zu sagen: »Wenn ich mal heirate, will ich es so machen wie ihr. Ich will so nett sein wie Harriet und David und ein großes Haus und ganz viele Kinder haben … und ihr alle werdet mir immer willkommen sein.«
Sie war fünfzehn, dicklich und nicht besonders hübsch, aber jeder ahnte, dass sie demnächst aufblühen und schön werden würde. Sie sagten ihr das.
»Es ist nur natürlich«, sagte Dorothy gelassen. »Wer kein richtiges Zuhause hat, weiß es erst richtig zu schätzen.«
»Kein unbedingt logischer Schluss«, meinte Molly. Das Schulmädchen blickte ratlos umher.
»Meine Mutter meint, dass man nur das hoch bewertet, was man von früh an selbst erfahren hat«, sagte David. »Aber ich bin der lebende Beweis dafür, dass das nicht so ist.«
»Willst du damit sagen, du hättest nie ein richtiges Zuhause gehabt?«, protestierte Molly. »Das ist doch blanker Unsinn.«
»Du hattest sogar zwei«, sagte James.
»Ich hatte mein Zimmer«, sagte David. »
Mein Zimmer
, das war mein Zuhause.«
»Tja, vermutlich müssen wir für dieses Zugeständnis noch dankbar sein«, sagte Frederick. »Mir war nicht klar, dass du so viel entbehrt hast.«
»Habe ich auch nicht. Ich hatte ja mein Zimmer.«
Man entschloss sich, die Achseln zu zucken und zu lachen.
»Und ihr habt euch offenbar nie Gedanken darüber gemacht, wie schwierig es sein wird, allen eine gute Ausbildung zukommen zu lassen«, sagte Molly. »Zumindest hat man bisher davon noch nichts bemerkt.« Hiermit berührte sie jenen kritischen Punkt, der in diesem Hause so erfolgreich übergangen wurde. David war natürlich auf einer Privatschule erzogen worden.
»Luke kommt dieses Jahr hier in die Volksschule«, sagte Harriet. »Und Helen fängt nächstes Jahr an.«
»Nun, wenn euch das gut genug ist«, sagte Molly.
»Meine drei sind alle in normale Schulen gegangen«, sagte Dorothy, die das nicht unwidersprochen lassen konnte, aber Molly ging auf die Herausforderung nicht ein. Sie bemerkte nur: »Na ja, solange James euch unter die Arme greift …«, womit sie zugleich bekundete, dass sie und Frederick finanziell nichts beitragen konnten oder wollten.
James
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