Das fünfte Paar
schon morgen eindeutig feststellen - sonst kann es Tage dauern.«
»Was soll ich tun?«
»Ich brauche Röntgenaufnahmen, Krankenblätter vom Zahnarzt - alles, was Aufschluß über spezielle körperliche Gegebenheiten liefert.«
Schweigen.
»Meinen Sie, Sie können die Unterlagen beibringen?«
»Natürlich. Ich werde mich sofort darum kümmern.« Ich vermutete, daß sie das Gewünschte bereits vor Sonnenaufgang beieinanderhaben würde - den zuständigen Ärzten stand eine stressige Nacht bevor.
Am folgenden Nachmittag entfernte ich gerade die Plastikhülle von OCME‘s Studienskelett, als Marino zur Tür hereinkam.
»Sie sind nicht leicht zu finden«, sagte er.
Mit ausdruckslosem Gesicht musterte er das Gerippe, dessen Knochen mit Drähten zusammengehalten wurden und das mittels eines Hakens im Scheitelpunkt des Schädels an einer L-förmigen Stange befestigt war. Die Füße baumelten über einer mit Rollen versehenen Holzplatte. Es war ein Stückchen größer als ich.
Ich sammelte meine Unterlagen vom Tisch auf. »Was halten Sie davon, den Burschen für mich rauszurollen?«
»Sie machen einen Spaziergang mit Ihrem Freund? Eine gute Idee: Er sieht ein bißchen blaß aus um die Nase.«
»Er muß nach unten. Sein Name ist übrigens Haresh«, antwortete ich.
Die Knochen und die kleinen Räder klapperten leise, als Marino und sein grinsender Begleiter mir zum Aufzug folgten. Amüsierte Blicke vorbeikommender Mitarbeiter begleiteten uns. Haresh wurde nicht oft in Anspruch genommen - und wenn, dann nur sehr selten für einen ernsthaften Zweck.
Als ich im letzten Juni an meinem Geburtstag ins Büro gekommen war, hatte ich Haresh in meinem Schreibtischsessel vorgefunden - eine Brille auf dem Nasenbein, einen Laborkittel über dem Knochengerüst und eine Zigarette zwischen den Zähnen. Ein geistesabwesender Pathologe hatte, wie man mir erzählte, beim Vorbeigehen an der offenen Zimmertür gewohnheitsmäßig guten Morgen gesagt.
»Hat er Ihnen das mitgeteilt?« fragte Marino spöttisch. Die Lifttüren schlossen sich hinter uns.
»Sie werden lachen - er hat mir schon allerhand mitgeteilt«, erwiderte ich. »Ich habe festgestellt, daß er mir manchmal von viel größerem Nutzen ist als die Diagramme in den einschlägigen Büchern.«
»Wie ist er zu seinem Namen gekommen?«
»Als er vor Jahren gekauft wurde, gab es hier einen indischen Pathologen, der so hieß. Das Skelett ist ebenfalls indischen Ursprungs. Männlich, in den Vierzigern - vielleicht auch etwas älter.«
Wieder klapperten Knochen und Räder, als Marino Haresh in den Autopsietrakt rollte.
Auf einem weißen Laken, das den vordersten Stahltisch bedeckte, lagen die sterblichen Überreste von Deborah Harvey: Schmutziggraue Knochen, schlammverklebte Haarsträhnen und Sehnen, so schwarz und zäh wie Schuhleder. Der Gestank war aufdringlich, aber seit ich die Kleider entfernt hatte, nicht mehr so unerträglich. Im Vergleich zu Haresh, dessen poliertes Gerippe makellos weiß im Neonlicht schimmerte, wirkte die Leiche noch erbarmungswürdiger.
»Ich habe einige Neuigkeiten für Sie«, eröffnete ich Marino. »Aber zuerst möchte ich das Versprechen von Ihnen, daß Sie nichts davon weitergeben.«
Er zündete sich eine Zigarette an und sah mich neugierig an.
»Okay.«
»Die Identität das Mädchens steht jetzt außer Frage«, begann ich, und arrangierte die Schlüsselbeinknochen zu beiden Seiten des Schädels. »Pat Harvey hat heute früh zahnärztliche Röntgenaufnahmen und Krankenblätter gebracht...«
»Selbst?« unterbrach er mich überrascht.
»Unglücklicherweise«, nickte ich. Ich hatte nicht erwartet, daß sie persönlich kommen würde - sonst hätte ich ihr einiges ersparen können.
»Das muß ja einen ganz schönen Wirbel verursacht haben«, meinte er.
Das hatte es in der Tat.
Sie hatte ihren Jaguar verbotswidrig direkt vor der Tür geparkt, war mit wehendem Mantel in das Gebäude gestürmt, wo sie den Portier mit einer Flut von Forderungen überschüttete. Völlig eingeschüchtert durch die Ankunft einer so wichtigen Persönlichkeit, ließ der Mann sie durch, und sie machte sich unverzüglich auf die Suche nach mir. Bestimmt wäre sie bis in die Leichenhalle vorgedrungen, wenn meine Sekretärin sie nicht am Lift abgefangen und in mein Büro geführt hätte. Als ich hereinkam, saß sie kerzengerade auf der Kante des Besucherstuhls und war weiß wie die Wand.
Auf meinem Schreibtisch lagen Totenscheine, Untersuchungsprotokolle, Fotos von
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