Das fünfte Paar
Margaret, unsere Computerspezialistin, mir alle Morde auszudrucken, die sich in den letzten zehn Jahren in einem Umkreis von achtzig Kilometern von Camp Peary ereignet hatten. Ich suchte nicht ausdrücklich nach einem Doppelmord - aber genau den fand ich. Aktenzeichen C0104233 und C0104234. Die Morde waren lange vor meiner Übersiedlung nach Virginia begangen worden und mir unbekannt.
Ich ging in mein Büro und las die Berichte mit wachsender Aufregung. Jill Harrington und Elizabeth Mott waren im September vor acht Jahren umgebracht worden - einen Monat nach Mr. Joyces Hund! Beide Frauen waren Anfang Zwanzig, als sie am Freitagabend, dem vierzehnten, verschwanden. Am nächsten Morgen fand man ihre Leichen auf einem Friedhof. Erst am darauffolgenden Tag entdeckte man Elizabeths Volkswagen: Er stand auf einem Motelparkplatz nahe der Route 60 in Lightfoot bei Williamsburg.
Ich begann die Autopsieprotokolle zu studieren. Elizabeth Mott war einmal in den Nacken geschossen worden, hatte eine Stichwunde in der Brust und eine durchschnittene Kehle. Sie war voll bekleidet, nichts deutete auf eine Vergewaltigung hin, die Kugel wurde nicht gefunden, die Gelenke wiesen Fesselmale auf. Es gab keinen Hinweis darauf, daß sie sich gewehrt hätte. Jills Bericht erzählte eine andere Geschichte: Sie hatte Schnitte an beiden Unterarmen und Händen, Blutergüsse und Verletzungen im Gesicht und am Kopf, die von Schlägen mit einer Pistole herrühren konnten, und ihre Bluse war zerrissen. Offenbar hatte sie verbissen gekämpft, bis sie schließlich nach elf Messerstichen starb. Den Zeitungsartikeln zufolge, die den Unterlagen beigefügt waren, waren die jungen Frauen zuletzt im Anchor Bar and Grill in Williamsburg gesehen worden, wo sie bis gegen zehn Uhr abends saßen. Es wurde angenommen, daß sie hier auf ihren Mörder trafen, mit ihm weggingen und ihm zu dem Motel nachfuhren, vor dem später Elizabeths Wagen gefunden wurde. Irgendwann - vielleicht dort auf dem Parkplatz - hatte er sie dann gezwungen, mit ihm zu dem Friedhof zu fahren, wo er sie umbrachte. Vieles an dieser Version der James City County Police leuchtete mir nicht ein. Man hatte auf dem Rücksitz des Volkswagens Blut gefunden, dessen Blutgruppe zu keiner der beiden Frauen paßte. Wenn es Blut vom Täter war - wie war es dazu gekommen? Hatte er im Fond mit einem der Mädchen gekämpft? Wenn ja, warum war dann nicht auch Blut von ihr da? Wenn beide Frauen vom saßen und er allein hinten - wie war er dann verletzt worden? Auch die Annahme, er könne sich während des Kampfes mit Jill auf dem Friedhof selbst mit seinem Messer verletzt haben, ergab wenig Sinn. Nach dem Mord an den beiden Frauen hätte er ihren Wagen vom Friedhof zurück zum Motel fahren, sein Blut also auf dem Fahrersitz sein müssen, statt auf dem Rücksitz. Und noch eine andere Frage beschäftigte mich: Warum hatte der Mörder seine Opfer nicht im Motel umgebracht? Was hatten sie überhaupt dort getan? Es waren keine Spermaspuren bei den Frauen gefunden worden. Bedeutete das, daß sie keinen Geschlechtsverkehr mit dem Mann gehabt oder daß sie sich anschließend gewaschen hatten? War dort eine Ménage à trois gelaufen? Nun - nach all den Jahren in meinem Job gab es nicht mehr viel Menschliches, das mir fremd war.
Ich rief Margaret an. »Ich brauche noch etwas anderes«, eröffnete ich ihr. »Eine Liste aller drogenpositiven Morde, die von Detective Montana aus James City County bearbeitet wurden. Wenn möglich, gleich.«
»Kommt sofort.« Ich hörte ihre Finger über die Tastatur huschen und legte auf.
Wie sich herausstellte, waren es sechs Fälle. Elizabeth Mott und Jiil Harrington standen auf der Liste, weil ihr Bluttest Alkohol erwiesen hatte. Die Promille lagen bei beiden unter 0,5. Bei Jill waren zusätzlich Chlordiazepoxide und Clinidium gefunden worden - Bestandteile von Librax.
Ich wählte die Nummer der James City County Police Detective Division und fragte nach Montana, worauf man mir mitteilte, er sei jetzt Captain bei den Internal Affairs, und mich weiterverband. Ich nahm mir vor, äußerst vorsichtig zu sein: Wenn er begriffe, daß ich vermutete, der Mord an den beiden Frauen könne mit dem Tod der fünf Pärchen zusammenhängen, würde er sich möglicherweise abschotten, statt zu reden.
»Montana«, kam eine tiefe Stimme aus dem Hörer.
»Hier spricht Dr. Scarpetta«, sagte ich.
»Hallo, Doc - wie geht's? Es sieht ja so aus, als würde in Richmond nach wie vor fröhlich
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