Das gefrorene Lachen

hatte gelacht und ihr einen zweiten Keks gegeben, dann hatte er ihr gezeigt, wie man ihn aufbrach und das Zettelchen herausholte, ohne es zu zerreißen.
    Pippa erinnerte sich auch noch an das Gedicht, das sie in ihrem Glückskeks gefunden hatte:
     
    Leuchtend zarter Blütenzauber
Im Mondschein über dem Wasser
Ach, Ostwind, kalt und böse
Neidest dem
Frühling die Pracht
Gierig greifend zerstörst du den Zauber
     
    Die zarte Blüte erfriert im Schnee
Ostwind, eisiger Herrscher
Nordkalt dein Atem. Im Eiseshauch
Gefriert zarter
Blütenzauber, erstickt und stirbt.
    Pippa fürchtete, dass dies kein besonders gutes Gedicht war, aber trotzdem mochte sie es sehr, wie alle seine Gedichte. Es hatte ihr so gut gefallen, dass sie den Koch seither »Zarter Blütenzauber» nannte, weil sie fand, dass der Name zu ihm passte. Er hatte sich darüber nicht beschwert und inzwischen riefen ihn auch alle anderen so.
    Pippa stellte ihre leere Tasse ab und ging zu der Wand, an der die Gedichte des Kochs sich leise im Luftzug bewegten.
    »Das ist neu, Zarter, habe ich recht?«, sagte sie und tippte auf einen Zettel neben der Tür.
    Der Koch nickte und lächelte erwartungsvoll. Pippa nahm den Zettel vorsichtig in die Hand und las:
     
    »Seelenfänger, dunkles Grab
Gefängnis aus Erde und Wasser, gehärtet in Feuer und Zeit
Nur Liebe zerbricht, was Feuer formte«
    Sie sah auf. »Das ist schön«, sagte sie zögernd. »Ich verstehe es bloß nicht.«
    Das Lächeln des Kochs verschwand und machte einer betrübten Miene Platz. Er streckte die Hand aus. Pippa legte das Gedicht hinein, und Zarter Blütenzauber zerknüllte den Zettel und machte Anstalten, ihn in den Ofen zu werfen.
    »Nein«, rief Pippa, »nicht verbrennen. Gib es mir, bitte!« Sie griff danach, glättete das zerknitterte Papier behutsam und steckte das Gedicht ein. »Danke«, sagte sie.
    Von draußen klangen Trompetenstöße herein. Pippa sprang erschreckt auf, sie hatte vollkommen die Zeitvergessen. »Zarter, wir müssen uns fertig machen. Die Abendvorstellung fängt gleich an!«
    Der Riese erhob sich und band seine Schürze ab. Er blickte bedauernd zum Tisch, wo Pinsel und ein Tuschestein auf einem Bogen Seidenpapier lagen. Dann schlug er sich gegen die Stirn und stampfte in das Küchenabteil, um die Kartoffeln abzugießen.
    Pippa wartete nicht auf ihn, sie riss die Tür auf und rannte hinaus. Die Abendvorstellung!

Zwischenspiel
    Die Abendvorstellung – was für ein Zauber geht von diesem Wort aus! Die Abendvorstellung ist die Königin aller Vorstellungen, eine große geheimnisvolle Kiste, angefüllt mit Wundern, Licht und Musik, mit Trompetenstößen und Trommelwirbeln, mit Feuer und Beifallsrufen und dem Duft von heißem Puffmais und süßem Zuckerwerk.
    Die erste Abendvorstellung, die an einem neuen Spielort stattfindet, ist traditionell ein großer bunter Aufzug, bei dem all die
     wunderbaren Nummern und Auftritte, musikalischen Akte und theatralischen Sternstunden des Repertoires als kleine Appetithappen und bunte Bonbons
     an das atemlose, verzauberte Publikum verteilt werden – und das vollkommen umsonst und ohne dass ein Groschen dafür bezahlt werden muss.
    Für die Akteure ist die erste Abendvorstellung eine große atemlose, bunte Kiste voller Pannen, zerbrechender Podeste, zusammenstürzender Prospekte, abplatzender Knöpfe und einreißender Säume, widerspenstiger Requisiten, tölpelhafter Statisten, verrutschender Perücken und falscher Nasen, verlorener Partituren, verpatzter Einsätze und vergessener Texte.
    Bühne frei!

8
    Das Gewebe unsres Lebens besteht aus gemischtem Garn,
gut und schlecht durcheinander.
    Ende gut, alles gut
    Pippa stand in einem flitterbunten Kleid am Eingang des Geländes, trug einen Kopfputz aus Federn und Blumen, der ihr bei jedem
     Windstoß vom Kopf zu fallen drohte, und verteilte lächelnd und knicksend Handzettel, auf denen zu lesen stand:
    Hochverehrtes Publikum, liebe Kinder!
    Maestro Spinelli und sein Fliegendes Theater geben sich hier, heute und jetzt (und für die nächsten vierzehn Tage zweimal täglich, sonntags dreimal) die Ehre, allerlei bunte Spektakel, atemberaubende Akrobatik, zauberhafte Zaubereien und tief empfundene Dramen zur Aufführung zu bringen. Sowie einen Kraftmenschen, anmutige Balletteusen, drollige Clowns und den Großen und Unvergleichlichen Lorenzo, Magier der Könige.
    Maestro Spinelli und sein Fliegendes Theater freuen sich, Sie und euch nachmittags und abends (sonntags auch morgens) als
Gäste