Das gefrorene Lachen
Papierchen mit den Fingern, las, blätterte, nahm hier und da eine Änderung vor, indem er ein Blatt vorsichtig löste und an eine andere Stelle hängte.
Zarter Blütenzauber stand da, geduldig wie ein Baum, die Hände vor dem Bauch verschränkt, und sah August zu.
Pippa schnaufte. »Gustl, jetzt sag schon, was du dasiehst!«, rief sie ärgerlich aus. Er sah es auch, er sah das Gleiche wie sie. Aber er schien etwas mehr zu erkennen, was vielleicht daran lag, dass er die Gedichte nicht schon so lange und so gut kannte wie sie. Es lag so nahe, dass es sie regelrecht juckte, aber sie fand die Stelle nicht, an der sie kratzen musste. Es würgte sie und am liebsten hätte sie jemanden angeschrien, um die Spannung zu lösen.
Der Koch fing ihren Blick auf und legte den Zeigefinger auf die Lippen. Still. Lass ihn in Ruhe.
Pippa stellte sich hinter August und begann über seine Schulter hinweg mitzulesen. Sie kannte diese Gedichte besser als jeder andere hier im Theater, denn Pippa war diejenige, die jedes einzelne davon aus seiner Hülle aus knusprig gebackenem Teig befreit hatte. Zarter Blütenzauber hat diese Gedichte ganz allein für mich geschrieben, dachte sie und musste sich beherrschen, August nicht von der Wand wegzuschieben und ihm zu verbieten weiterzulesen. Sie musste über ihren Anflug von Eifersucht lächeln. Wenn August es jetzt gelang, den Sinn darin zu entdecken, der ihr bisher verborgen geblieben war, dann hatte er jedes Recht, diese Gedichte zu lesen.
Sie glaubte, jemanden ihren Namen rufen zu hören, und lauschte mit angehaltenem Atem. Auf dem Platz war es so laut mit all den durcheinanderschwatzenden Stimmen, dem Getrappel und Gelächter und der lauten Trommel, Kindern, die kreischten, und der alles übertönenden Stimme des Ausrufers, der eine Flüstertüte benutzte. Wahrscheinlich hatte sie sich nur eingebildet, ihren Namen gehört zu haben.
Augustin sagte, ohne aufzublicken: »Da ruft jemand nach dir, Pippa.«
Sie stöhnte unterdrückt und öffnete die Tür. Wer sollte schon nach ihr rufen, außer …
»Da treibst du dich also herum!« Lorenzo war nicht besser gelaunt als bei ihrem letzten Zusammentreffen. Er war im Frack und trug die Tasche mit den Utensilien in der Hand, den Umhang über dem Arm und den Zylinder darin eingerollt und in die Armbeuge geklemmt. Er musterte sie kalt, seine Lippen über dem spitzen Bart zu einer dünnen Linie zusammengepresst. »Wir haben nicht geprobt. Das wird ein schöner Auftritt!« Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und stapfte davon.
»Ich komme nicht mit«, rief Pippa und ärgerte sich, weil ihre Stimme zitterte.
Lorenzo hielt an und drehte sich um. »Was hast du gesagt?«
Pippa verschränkte die Arme. »Du hast es gehört.«
»Du bist meine Assistentin«, sagte er gefährlich leise. »Und du bist immer noch meine Tochter, auch wenn ich große Lust hätte, dich aus dem Wagen zu jagen. Wenn ich sage, du kommst mit, dann kommst du mit.«
Pippa erwiderte seinen Blick nicht minder störrisch. »Du hättest dir schon lange eine andere Assistentin suchen können«, erwiderte sie. »Marie-Belle ist ganz wild darauf, das weißt du.«
Marie-Belle war keine besonders gute Tänzerin, aber sie war klein und wendig und sehr hübsch. Sie hatte Pippa verraten, wie sehr sie die Tochter des Zauberers um ihre wunderbare Aufgabe beneidete. Marie-Belle konntesich nichts Schöneres vorstellen, als in einem knappen Glitzerkostüm zu knicksen, zu lächeln und Kusshände ins Publikum zu werfen, Requisiten hin- und herzutragen und sich im Übrigen voller Begeisterung in kleine Kisten packen zu lassen, zu Knoten zu verrenken, zersägen und von Schwertern durchbohren zu lassen und was noch alles zu den Aufgaben einer Assistentin gehörte.
Pippa, die gerade mal einen Kopf kleiner war als ihr Vater und deswegen (und wegen ihrer Angst vor kleinen, geschlossenen Räumen) vor allem den Teil mit den engen Kisten so sehr verabscheute, dass ihr beinahe übel wurde, wenn sie daran dachte, hätte Marie-Belle all das mit Freuden überlassen – wenn ihr Vater nur eingewilligt hätte. Aber der stellte sich stur.
Auch jetzt kam wieder die alte Frage: »Aber was willst du denn sonst tun?«
»Ich kann zaubern«, rief Pippa grimmig. »Ich beherrsche fast alle deine Tricks ebenso gut wie du, Papa. Das weißt du doch.«
»Mädchen werden keine Zauberer«, erwiderte er. »Das habe ich dir schon so oft erklärt. Mädchen werden Assistentinnen.« Er sah sie böse an. »Niemand hat je von
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