Das gefrorene Lachen
makellos und faltenfrei, als hingen die Kleider auf einer Puppe und nicht an einem lebendigen Menschen. Das kurze Schultercape der dunkelgrauen Uniform fiel akkurat herab, aber alle wandten die Augen davon ab. Niemand wollte riskieren, versehentlich einen Blick auf das zu erhaschen, was sich darunter leise tickend drehte.
»Lass nur, Mathis«, sagte der Wirt hastig, als der Gendarm nach seiner Geldbörse griff, »das geht aufs Haus.«
»Das ist uns nicht erlaubt«, erwiderte der Gendarm tonlos. »Ich müsste das als Bestechung …«
»Ein Groschen, Mathis«, unterbrach ihn der Wirt hastig. »Ein Groschen für zwei Becher Tee. Danke, Mathis.« Er fegte die Münzen, die der Gendarm auf den Tresen legte, mit dem Poliertuch in seine Kasse. »Einen guten Tag, Mathis.«
Schweigend sahen die Männer dem Gendarmen hinterher, der mit stetem Schritt zur Tür marschierte, sie aufzog und ins Licht hinaustrat. Die Tür schwang zu.
Stille.
»Verdammte Gendarmerie«, spuckte Jasper in seinen Napf.
»Das waren Zeiten«, sagte der Lehrer und raschelte mit seiner Zeitung. »Das waren Zeiten …«
»Sei lieber still, Ludwig«, murmelt der Wirt. »Man weiß nie, wer gerade zuhört.«
Die Tür knallte auf. »Das Theater ist da«, rief atemlos ein Botenjunge und stellte seinen Korb auf den Tresen. »Die Lieferung für die Frau Wirtin, bitt schön. Vier Groschen und sechs Kreuzer, Herr Wirt.«
Gustav zog die Lade auf und zählte die Münzen auf den Tresen. Der Junge sammelte sie in seine Schürzentasche und rieb sich die Hände. »Ich habe zugesehen, wie sie den großen Mast aufgestellt haben«, plapperte er. »Da ist ein Riesenkerl, ganz gelb ist er und hat einen Zopf und so komische Augen.« Er legte die Finger in die Augenwinkel und zog sie zu schrägen Schlitzen. »Der hat den Mast beinahe ganz alleine in die Höhe gehoben.« Er hob den Korb auf, den der Wirt inzwischen ausgeräumt hatte. »Der Ausrufer ist auf dem Weg zum Marktplatz«, verriet er. »Ich werd’ mir anhören, was er sagt. Es gibt bestimmt freien Eintritt zum großen Jubeltag! Schönen Tag noch allerseits.« Die Tür klappte, fort war er. Ein kleiner Windstoß ließ ein Papier über die Schwelle flattern.
Lene ging daran vorbei und hob es auf. Sie warf einen gleichgültigen Blick darauf und legte es dem Wirt hin.
»Was steht darauf?«, fragte der Fuhrmann und schielte auf das Papier.
Der Wirt nahm es in die Hand und fischte in der Westentasche nach seinem Zwicker. »Warte«, sagte er und rieb die Gläser an der Schürze blank. Er klemmte den Zwicker umständlich auf die Nase und las vor.
» Maestro Spinellis Fliegendes Theater «, las er langsam und stockend. »Verdammte verschnörkelte Schrift, das kann doch kein Mensch lesen.« Er drehte das Blatt ins Licht. » ... Fliegendes Theater beehrt sich, dem hochnoblen Publikum sein Programm zu annoncieren. Zur Feier des Jahrestags der Glorreichen Thronbesteigung unseres hochwohllöblichen Herrschers – möge er ein langes und gesegnetes Leben genießen«, er holte Luft, »fühlen wir uns geehrt, das wunderbare, schaudervolle und hochtragische Stück ›Die Tragödie vom König Llˆyr‹ zur Aufführung bringen zu dürfen. «
»König was?«, fragte Jasper, der sichtlich Mühe hatte, dem Vorgelesenen zu folgen.
»Ich lese das jetzt nicht noch einmal vor«, knurrte der Wirt. »Also, gib Ruhe, Jasper.« Er räusperte sich und rückte den Kneifer zurecht. » Verehrtes Publikum, liebe Kinder, Maestro Spinelli und sein Fliegendes Theater bieten Ihnen und euch für die Festtage atemberaubende Akrobatik, mitreißende Schaustücke sowie einen Kraftmenschen, anmutige Balletteusen, drollige Clowns und den Großen und Unvergleichlichen Lorenzo, Magier der Könige.
Maestro Spinelli und sein Fliegendes Theater freuen sich, Sie und euch nachmittags und abends (sonntags auch morgens) als Gäste begrüßen zu dürfen. Eintritt zu allen Vorstellungen zwei Groschen, Kinder zahlen die Hälfte.«
Er ließ den Zettel sinken und rieb sich über die Augen, wobei er den Zwicker von seiner Nase fegte.
»Das hört sich aber aufregend an«, sagte das Schankmädchen mit glänzenden Augen.
»Eine Tragödie«, hauchte die Wirtin, die in der offenen Küchentür lehnte. »Ach, wie sehr habe ich michnach einer richtigen Tragödie gesehnt. Ob es darin auch ein tragisches Liebespaar gibt wie in ›Romina und Giulio‹?«
Frauen, sagte der Blick, den Jasper und der Wirt tauschten.
»›Romina und Giulio‹«, rief der Lehrer aus und seine
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