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Das gefrorene Lachen

Das gefrorene Lachen

Titel: Das gefrorene Lachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ueberreuter
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Schweiß von seinem Gesicht. »Lorenzo, ich möchte mit dir reden. Jetzt. In meinem Wagen.«
    »Ich hoffe, du entlässt ihn, Herr Prinzipal«, rief der Weißclown. »Er ist untragbar. Und sieh dir seine Tochteran, das kleine Flittchen …« Ehe er weiter sein Gift verspritzen konnte, fuhr der Prinzipal herum und gab ihm eine schallende Ohrfeige. »Du gehst mir aus den Augen«, rief er wütend. »Ich überlege mir noch, was ich mit dir mache, Alonso. Fürs Erste sind deine Vorstellungen gestrichen. Geh in deinen Wagen.«
    Der Weißclown öffnete den blutrot geschminkten Mund und schnappte nach Luft. In seiner verschmierten Maske sah er aus wie eine seltsame Missgeburt, eine Kreuzung aus Mensch und giftigem Käfer.
    Er schloss den Mund, ohne etwas zu erwidern, machte eine steife kleine Verbeugung und wirbelte auf dem Absatz herum. »Räum die Bühne auf, August«, zischte er und stapfte mit wütend abgehackten Schritten davon.
    »Lorenzo!«, befahl der Prinzipal. Pippas Vater, der sich matt gegen die Zauberkiste gelehnt hatte, richtete sich auf und folgte dem Theaterleiter hinaus. Der Riss auf seiner Wange und das an seinem Mundwinkel und Kinn getrocknete, dunkel verkrustete Blut ließen sein Gesicht wie eine bösartige Maske erscheinen. Pippa schauderte und wünschte sich in die tröstlichen Arme des Kochs zurück.
    August stand stumm da und zupfte an seinen Haaren. »Komm mit«, sagte Pippa zu ihm. »Lass alles liegen. Du hast es nicht in Unordnung gebracht, also musst du es auch nicht aufräumen.« Sie war wütend, ohne dass sie genau hätte sagen können, warum und auf wen. Warum meinten nur alle, auf August herumtrampeln zu müssen? Und warum ließ er auf sich herumtrampeln?
    »Ist schon gut«, murmelte August. »Ich räume schnellauf. Sonst müssen Hans’ Leute es machen, und die haben doch im Moment so schrecklich viel zu tun.«
    Pippa nickte müde und tastete nach der Pranke des Kochs. Ihr Kopf brummte und die Beine zitterten immer noch. Zarter Blütenzauber fasste sie um die Schulter und führte sie so behutsam wie eine Mutter ihr Kind von der Bühne und hinaus ins helle Licht des Tages.

15
    Wenn du Gift für mich hast, so will ich’s trinken,
Ich weiß, du liebst mich nicht.
    König Lear
    Zarter Blütenzauber brachte sie zu seinem Wohnwagen. Die frische Luft vertrieb ihre Benommenheit, der Schwindel verflog und machte einer dumpfen, tiefen Erschöpfung Platz.
    Pippa folgte dem Koch die Stufen zu seinem Wagen empor, ließ sich von ihm zum Sofa führen und in die Decke wickeln. Er ging in das Küchenabteil hinüber. Das Klappern des Wasserkessels, das Brausen des Feuers und die tröstlichen Geräusche, mit denen ein Löffel in einem Becher klimperte, ließen die Reste der Anspannung von ihr weichen. Sie sank tief in die weichen Polster des großen Sofas und zog schaudernd die Decke über sich, so zerschlagen und wund, als hätten die Schläge und Tritte des Clowns ihren Körper getroffen.
    »Das war so schrecklich«, sagte sie.
    Der Koch hielt in seinen Hantierungen inne und schaute besorgt durch den Durchgang. Pippa winkte ihm zu und probierte ein beruhigendes Lächeln. Er nickte und zog den Kopf zurück.
    Dann musste sie eingeschlummert sein, denn als Nächstes fiel ihr Blick auf einen großen, dampfendenBecher, der zum Warmhalten in ein Handtuch gewickelt neben ihr stand. Pippa nahm den Becher und wärmte ihre Finger daran. Der zarte Duft nach Kräutern und Honig, das matte Halbdunkel und die Stille des großen Wagens beruhigten ihre tanzenden Nerven. Sie seufzte und trank den immer noch heißen Tee. »Zarter?«, rief sie halblaut, aber sie war allein.
    Zufrieden trank sie den Becher bis zu seinem honigsüßen Bodensatz aus. Ein wenig unentschlossen hockte sie da – musste sie nicht zur Vorstellung? Von draußen klang die Anfangsmusik des Nachmittagsprogramms zu ihr herein. Pippa stand auf, ging zur Tür, zögerte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr Vater nach diesen Geschehnissen auf der Bühne stehen würde, als wäre nichts passiert. Und falls doch und falls er sie brauchte, würde er sie schon holen lassen. Sie hatte keine Kraft, zur Tür hinauszugehen. Sie wollte ihn nicht sehen. Sie wollte niemanden sehen.
    Pippa nahm die Gedichte von dem Wandbord und zog sich wieder in die wärmende Umarmung der Decke zurück.
    Wieder las sie die drei Gedichte durch, die länger waren als all die anderen. Dem ersten hatte der Koch seinen Namen zu verdanken:
     
    Leuchtend zarter Blütenzauber
Im Mondschein

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