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Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrés Pascual
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Windhunde, wirkten krank, geistig entrückt. Unter ihnen gab es auch Frauen mit leeren Brüsten, die sich das Haar mit Diademen aus Lehm hochgesteckt hatten. Ihre nackten Körper waren von oben bis unten mit roter Erde bedeckt. Waren das etwa Dämonen, die herumirrenden Geister toter Anosy? Sie trugen keine Waffen und taten nichts weiter, als die Neuankömmlinge aus großen roten Augen anzustarren, während sie das Kind in einem zitternden Kreis umgaben. Aus ihrer Mitte trat ein Greis hervor. Er machte einige Schritte auf den Kapitän zu und blieb dann stehen.
    So einen Menschen hatte Matthieu noch nie gesehen. Die Falten, die sein Gesicht durchzogen, schienen eher vom Alter der Insel zu zeugen als von seinem eigenen. In den lehmigen Fingern hielt er ohne Druck ein Vogeljunges. Dieser Mann war ein Teil der Erde, auf der er stand. Seine Füße waren mit Asche bedeckt, die dünnen, vertrockneten Beinchen waren wie Bambusröhren.
    »Kaum zu glauben …«, murmelte La Bouche. Er hielt dem Blick des Alten stand.
    »Was denn?«
    »Er ist es …«
    »Wer?«
    »Der alte König«, erklärte der Kapitän und versuchte, sich Bilder ins Gedächtnis zu rufen, die die Feuer der letzten Schlacht vor zehn Jahren überlebt hatten.
    »Dieser Mann ist der frühere König der Anosy?«
    »Ich würde ihn unter einer Million dieser verfluchten Neger wiedererkennen.«
    »Ich dachte, sein Sohn hätte ihn erledigt.«
    »Ich ebenfalls«, raunte der Kapitän. »Und vielleicht war es ja auch wirklich so.«
    »Was meint Ihr?«
    »Sieh ihn dir doch an, er ist nur noch Haut und Knochen«, sagte La Bouche und betrachtete den Eingeborenenherrscher, der zu einem hilflosen Greis geworden war, mit einer gewissen Enttäuschung.
    Der Kapitän hob langsam sein Schwert und berührte die Arme des Mannes mit der stumpfen Seite, um sich zu vergewissern, dass sein Gegenüber auch aus Fleisch und Blut war. Der alte Mann, der kein Wort gesagt hatte, drehte sich zu den Felsen am hinteren Rand der Grube um.
    Dann nahm in der Dunkelheit ein neuer Schatten Form an.
    Matthieu fiel sein Gang auf, die gemächlichen Schritte, ganz anders als die hektischen Bewegungen der Anosy, die sich um das Kind mit der Sitar scharten. Der Mann überragte sie alle. Er war barfuß, trug aber eine Kniehose und ein Hemd. Er war …
    Er war weiß.
    Reflexartig nahmen die Soldaten Abwehrhaltung an. Der Mann stieg in aller Seelenruhe die Felsen hinunter und kam auf sie zu. Er blieb neben dem alten König stehen. Er war blass, hatte lange Arme und einen Bart, der genauso blond war wie das glatte Haar. Er nahm sie alle unter die Lupe. Beim Kapitän verharrte er und kniff die Augen zusammen. Matthieu erkannte, dass der ungläubige Ausdruck auf La Bouches Gesicht sich bis ins Unendliche steigerte. Es war, als hätte er ein Gespenst gesehen.
    »Du?«, brachte er schließlich hervor.
    »Sag meinen Namen«, antwortete der Schatten mit tiefer Stimme.
    »Aber …«
    »Sag meinen Namen«, wiederholte er. »Ich muss ihn einfach hören.«
    »Pierre?«
    »Sag ihn noch einmal.«
    »Pierre Villon, der Arzt?«
    »Pierre Villon, dein Bordarzt. Verdammt noch mal, wie sehr ich die Fortune vermisst habe!«
    Beide brachen in nervöses Gelächter aus und fielen sich in die Arme. Der Kapitän konnte nicht anders, als sich noch einmal von dem Mann zu lösen und sich zu vergewissern, dass er auch wirklich der war, der er zu sein schien.
    »Pierre …«
    »Kapitän …«
    »Entschuldige, aber ich weiß gar nicht, was ich sagen soll!« La Bouche lachte wieder, wurde dann jedoch sofort ernst. »Ich hatte dich für tot gehalten …«
    »Ich weiß«, entgegnete der Arzt.
    Sie konnten gar nicht aufhören, sich gegenseitig anzustarren.
    »Mein Gott, zehn Jahre sind inzwischen verstrichen …«
    »Ich versichere dir, dass alles in Ordnung ist.«
    Unwillkürlich umfasste La Bouche den Griff seines Schwertes. Für seinen Freund würde er alles tun.
    »Bleib dicht bei mir. Wir holen dich sofort hier heraus. Sind hinter den Felsen noch mehr von ihnen? Haben sie Waffen?«
    »Ganz ruhig, Kapitän, ich bin kein Gefangener«, erklärte Pierre seltsam gelassen.
    »Aber …«
    »Seit damals hat sich viel verändert«, unterbrach er seinen Freund lächelnd und sah ihm in die Augen. »Genieß einfach mit mir das Wiedersehen.«
    La Bouche warf einen kurzen Blick in die Gesichter dieses erbärmlichen Grüppchens von Eingeborenen.
    »In Ordnung«, stimmte er schließlich zu, entspannte sich und schob das Schwert zurück in die

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