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Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrés Pascual
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als hätte man schon immer auf sie gewartet. Niemand stellte sich ihnen in den Weg oder belästigte sie. Die Anosy starrten sie einfach nur reglos an, und einige streckten den Arm nach ihnen aus, ohne sie zu berühren. La Bouche strich über den Griff seines Schwertes. Man vernahm nichts außer ihren Schritten und dem Knistern der Flammen. Sie gingen weiter bergab, bis sie plötzlich auf die ersten Kakteen des Dornenwalds stießen. Eine Gruppe Krieger kontrollierte den Pfad zur Lichtung, auf der die Hütten von Ambovombes Dorf standen. Matthieu spannte jeden einzelnen Muskel an, aber wieder geschah gar nichts. Und erneut hatte er dieses Gefühl … Ob es wohl stimmte, dass man sie erwartete? Warum hielt sie niemand auf?
    Pierre sprach mit dem Mann, der das Kommando zu haben schien. Matthieu und La Bouche wussten nicht, was gesagt wurde, der Eingeborene rief jedoch einem Jugendlichen eine Anweisung zu, der auf dem Pfad davonlief, zweifellos um ihre Ankunft zu melden. Die anderen traten zur Seite und machten Platz, um sie vorbeizulassen. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie das Ende des Weges erreichten. Dort nahm sie ein Dutzend bewaffnete Krieger in Empfang. Pierre wechselte wieder ein paar Worte mit ihnen. Sie diskutierten, und es kam zu einem Streit unter den Eingeborenen, den Pierre jedoch geschickt zu schlichten vermochte. Schließlich erlaubte man ihnen, das Dorf zu betreten, folgte ihnen aber auf dem Fuße, um jede ihrer Bewegungen zu überwachen.
    Genau wie an den Hängen des Tales brannten auch hier mehrere Feuer. Es war kein Windhauch zu spüren. Die Hitze war unerträglich. Die Eingeborenen schwitzten, und das Fett, das sie für die Haarpflege benutzten, lief ihnen übers Gesicht. Im Hintergrund waren ständig Schreie und Geheul zu hören. Was für ein Tumult war das bloß?
    Sie umrundeten die Unterkünfte der Sklaven und gingen in nordöstlicher Richtung weiter. Es war, als würde man in einen blutigen Albtraum eintauchen.
    »Das ist eine Zeremonie zur Anrufung Zanaharys«, erklärte Pierre und blickte stur geradeaus.
    Man konnte ihn bei dem Getöse kaum verstehen.
    »Einer ihrer Götter?«
    »Der einzige Gott der Anosy.«
    Überall sah man rot verfärbte Körper, zum einen wegen der Pigmente, die sie der Erde entzogen, zum anderen wegen des Blutes der Tiere, die während der Zeremonie geopfert worden waren. Die Frauen stimmten mit entrücktem Blick schrille Gesänge an. Die Männer tanzten geduckt und mit weit ausgebreiteten Armen, als ahmten sie einen Vogel nach. Gewaltsam schlugen sie mit zurechtgeschnitzten Pfählen auf den Boden. Das Dorf ging in albtraumhaftem Chaos unter. Niemand schien die Anwesenheit der Franzosen zu bemerken.
    »Wird Luna singen?«, frage Matthieu.
    »Das glaube ich kaum. Es handelt sich um ein Ritual, bei dem die Ahnen angerufen werden. Sie sind die Vermittler zwischen ihrem Gott und den Menschen. Sie bitten ihre Vorfahren, bei Zanahary für sie Fürsprache zu halten und ihm irgendein Anliegen vorzutragen, ich kann aber nicht so ganz verstehen, worum es geht …«
    Der Schamane, ein einäugiger Greis, leitete die Zeremonie und verrenkte die Glieder in zuckenden Bewegungen. Nach kurzem Erstaunen kam er langsam auf sie zu. Er rollte mit seinem einzigen Auge, während er über das Kreischen der Frauen hinweg kurze Stoßgebete ausrief. Als ob er erraten hätte, dass Pierre der Einzige war, der ihn verstehen konnte, redete er aus kurzer Entfernung auf ihn ein und blies ihm sauren Atem ins Gesicht, während er sein Haar berührte.
    »Bewegt euch nicht …«
    »Übersetz uns, was er sagt …«
    »Ich kann ihn nicht verstehen … Er ist in Trance und stößt zwischen einzelnen Wörtern oft nur ein Grunzen aus …«
    Der Schamane drehte sich um, ließ erst einmal von den Fremden ab und trat vier Kriegern entgegen, die ein riesiges Zebu herbeiführten. Der Höhepunkt des Rituals war gekommen. Mitten auf der Lichtung fesselten sie das Tier mit Blick nach Nordosten, so als wären seine Hörner die Nadeln eines Kompasses. Der kräftigste der Männer erhob eine Machete, die einem besonderen Reinigungsprozess im Meer unterzogen worden war, und hielt sie über den Buckel des Tieres, während er gebannt darauf wartete, dass der Schamane seine Gebete zu Ende sprach. Die Ältesten näherten sich dem Rind von hinten, rissen ihm Schwanzhaare aus und warfen sie in die Flammen eines Lagerfeuers, dessen schwarzer Rauch den gierigen Ahnen das Opfer ankündigte. Der Schamane schleuderte dem Himmel einen

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