Das geheime Lied: Roman (German Edition)
schrillen Schrei entgegen. In diesem Moment ließ der Mann mit der Machete die Klinge mit aller Kraft niedersausen und zerteilte den Buckel mit einem sauberen Schnitt. Das im Todeskampf zuckende Zebu versuchte sich zu befreien und bespritzte die Umstehenden mit seinem Blut. Der Anosy ging einen Schritt zurück und versetzte ihm unter dem Kinn einen neuen Schlag mit der Machete. Die Läufe des Tieres knickten ein, und es stürzte seitlich neben dem Lagerfeuer nieder. Wie von Sinnen kreischten die Eingeborenen und warfen sich auf das Zebu, um es in Stücke zu reißen. Die Alten teilten sich die rohen Innereien, während die jüngeren Stammesmitglieder sich um die spitzen Hörner rissen.
Matthieu sah sich um. Staub, sengende Sonne, deren Strahlen den Rauch durchbrachen, ein Schutzwall aus Kakteen, Schreie, blutunterlaufene Elfenbeinaugen, Pfähle, die auf dem Boden aufgeschlagen wurden. Der Blick des Medizinmanns fiel wieder auf sie. Sein Ausdruck … Der Mann stand blutüberströmt da und verkündete etwas mit lauter Stimme. Mit einem Mal wirkte er wieder klar im Kopf. Matthieu begriff, dass die Situation nun ernst wurde. Die Dorfbewohner kamen langsam auf sie zu.
»Das kann nicht wahr sein …«, murmelte der Arzt.
»Was geht hier vor sich?«
»Er sagt, dass ihr Gott ihre Gebete erhört und ihnen die Schuldigen geschickt hat.«
»Die Schuldigen?«, echote Matthieu besorgt.
»Meint er damit uns?«, rief La Bouche aus. »Woran sollen wir denn schuld sein? Erzähl ihnen, warum wir hier sind! Sag ihnen, dass wir eine Delegation des Königs von Frankreich sind!«
Er zog das Schwert aus der Scheide, einer der Krieger, die sie herbegleitet hatten, riss es ihm aber augenblicklich aus der Hand. Langsam und unerbittlich verschluckte die Flut roter Körper sie wie ein Lavastrom. Matthieu konnte nichts mehr sehen, er rollte zwischen Hunderten von Füßen auf dem Boden herum und hatte Erde in Augen und Mund. Irgendwo hörte er den Kapitän und Pierre dumpf schreien. Er wurde gepackt und an Händen und Füßen gefesselt.
Man brachte sie zur größten Hütte im Dorf. In deren Inneren befand sich nichts außer dem Stumpf eines Baobabs mit eingeschlagenen Metallringen, an denen man sie nun mit Lianen festband. La Bouche wehrte sich noch immer. Ein Krieger presste seinen Kopf zu Boden und machte mit Gesten deutlich, was ihm blühen würde, wenn er zu fliehen versuchte. Schließlich ließen sie die drei Männer allein. Bis auf das wenige Licht, das durch Ritzen in den hölzernen Wänden hereinfiel, war es in der Hütte dunkel.
»Was geht hier vor sich, Pierre?«, wollte Matthieu wissen.
»Warum hat man uns an diesen Ort gebracht? Hast du ihnen nicht erklären können, wer wir sind?«, drängte La Bouche.
Pierre aber schwieg und wandte den Blick nicht von einem großen roten Kreis auf dem Boden der Hütte ab.
»Das ist es nämlich, was deine Negerfreunde den ganzen Tag so treiben«, hielt La Bouche ihm vor. Seine Angst verbarg er hinter seiner übelsten Gereiztheit. »Sie werden uns das Herz rausreißen, um es in ihren Suppenkessel zu werfen.«
»Offensichtlich haben sie ja doch etwas von uns gelernt«, lautete die einzige Antwort des Arztes.
Matthieu lauschte den Geräuschen vor der Hütte. Wenn er versuchte, sie zu unterscheiden, kehrten jedoch die furchtbaren Ohrenschmerzen zurück, die er zum ersten Mal bei der Grabanlage nahe Fort Dauphin verspürt hatte. Vor lauter Angst und Nervosität konnte er seine geschmeidigen Finger nicht ruhig halten, die immer wieder versuchten, aus der Schlinge zu schlüpfen. Nach einer Weile gelang es ihm, die rechte Hand zu befreien. Einen Moment lang betrachtete er sein blutiges Handgelenk und die blau angelaufenen Finger.
»Schnell, lös meine Fesseln«, rief La Bouche, als er es bemerkte.
»Was zum Teufel macht ihr denn da?«, warf Pierre erschrocken ein. »Damit gebt ihr ihnen nur einen Grund, uns mit der Machete den Schädel einzuschlagen!«
»Das werden sie doch ohnehin tun!«
Sie hatten keine Gelegenheit mehr, eine Entscheidung zu treffen, da mit einem Mal die Tür der Hütte aufflog. Es war der Schamane, begleitet von einer Hand voll Eingeborenen mit Amuletten und brennenden Fackeln. Er trat an die drei Franzosen heran und schleuderte ihnen kurze Phrasen entgegen. Matthieu verbarg die Hände hinter dem Rücken.
»Frag ihn, wann der König uns empfangen wird«, drängte La Bouche Pierre erneut.
»Ich kann ihn nicht verstehen! Sei still!«
»Mach ihm klar, dass wir eine
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