Das geheime Lied: Roman (German Edition)
Delegation sind. Sag es ihm schon!«
Pierre versuchte, sich Gehör zu verschaffen, der Schamane verstärkte seinen Gebetston jedoch nur. Nachdem er den Schwanz des geopferten Zebus in der ganzen Hütte geschwenkt hatte, konzentrierte er seine beschwörenden Worte auf die nordöstliche Seite, den Bereich, in dem die Verbindung zu den Ahnen am stärksten war. Die anderen wiederholten, was er sagte, und erfüllten den Raum mit gutturalen Lauten, die sich mit dem Rauch der Fackeln vermischten. Die Luft wurde nach und nach zu einer stickigen Masse, so dass man kaum noch atmen konnte.
»Ambovombe wird uns nicht empfangen«, erklärte Pierre schließlich.
»Warum nicht?«
Der Kapitän versuchte wieder, sich loszureißen.
»Das ist zweifellos das Ende …«, stellte der Arzt seltsam ruhig fest, während sich zwei Krieger auf ihn stürzten.
Sie lösten die Lianen, mit denen er an den Ringen festgebunden war, einer hob ihn sich auf den Rücken und schleuderte ihn dann rüde in die Mitte des roten Kreises. Pierre wehrte sich nicht. Matthieu war entsetzt. Was scherte es ihn jetzt, ob sie sahen, dass seine Hände frei waren! Er robbte über den Boden, so weit, wie es seine Fußfesseln zuließen, und streckte die Hand nach seinem neuen Freund aus.
»Pierre!«, schluchzte er.
»Er sagt, dass der König ›die Stimme‹ verloren hat«, übersetzte dieser mit erstaunlicher Gelassenheit.
»Was zum Teufel soll das heißen?«, kreischte La Bouche.
»Ich weiß es nicht. Er sagt nur immer wieder, dass wir geopfert werden müssen, damit die Ahnen sie zurückbringen …«
Zwei Krieger pressten den Kopf des Arztes gegen den Erdboden. Der Schamane erhob eine Machete.
»Pierre, gib nicht auf! Erklär ihnen, dass wir Abgesandte des Königs von Frankreich sind. Verflucht, sag es ihnen eben noch einmal!«
Der Arzt schloss jedoch nur die Augen und wartete auf den Schlag.
Der Kapitän begann, so laut zu brüllen, dass seine Schreie die Beschwörungsformeln des Schamanen übertönten. Dieser folgte den einzelnen Schritten eines strengen Rituals, ritzte sich zunächst selbst an der Schulter die Haut ein und erhob die Waffe dann wieder. Sein Blut tropfte von der Klinge. Matthieu verbarg das Gesicht in den Händen. Was konnte er nur tun? Er dachte an das, was sie in der Baobab-Grube erlebt hatten. Wie war er bloß in diese furchtbare Situation hineingeraten? Was wurde hier von ihm erwartet?
Die Musik …
Er zog hastig die Violine aus dem Beutel, den er noch immer über der Schulter trug. Ihm zitterten die Hände. Er wollte den Bogen umdrehen, in der Eile rutschte er ihm aber durch die Finger und kam ein wenig entfernt auf dem Boden auf. Matthieu schlug das Herz bis zum Hals. Er streckte den Arm aus, so weit er konnte, es fehlten aber nach wie vor einige Zentimeter. Die Eingeborenen sprachen entrückt immer wieder die Gebete des Schamanen nach. Dieser hielt weiterhin die Klinge hoch und wartete den passenden Moment ab, um Pierre die Kehle zu durchtrennen, so wie er es mit dem Buckel des Zebus getan hatte. Matthieu legte all seine Kraft in einen verzweifelten Schrei und warf sich mit dem ganzen Körper in Richtung Boden. Die Fesseln zerrten an seinen Fußgelenken und schnitten in die Haut ein. Er griff genau in dem Moment nach dem Bogen, als einer der Krieger sich zu ihm umdrehte. Er gab dem Mann keine Gelegenheit, ihm den hölzernen Stab zu entreißen, sondern begann auf dem Boden ausgestreckt sofort zu spielen. Er konnte die Geige kaum gegen die Wange lehnen, um ihre richtige Haltung zu erreichen.
Sanfte Musik nahm die Hütte ein. Sie klang zunächst wie das leise Klagen eines Welpen, der in einer Ecke hockt, verwandelte sich dann jedoch nach und nach in eine deutliche Tonfolge, kurz, aber klar definiert, die mit jedem Takt an Intensität gewann. Warum spielte er bloß diese Noten?
Er warf den Eingeborenen einen raschen Blick zu und konnte es kaum glauben. Alle waren erstaunt verstummt und lauschten wie hypnotisiert der Melodie, die seinen Saiten entströmte.
Welch seltsame Kraft lenkt wohl meine Hände?, fragte er sich, ohne mit dem Spielen aufzuhören.
Er erinnerte sich an den Abend, als er in Versailles vor dem Sonnenkönig das Duett aus dem Amadis vorgetragen hatte. Damals hatte sein Bruder ihm die Inspiration aus jener parallelen Dimension geschickt, in der die Töne weiterleben. Jetzt wusste er, dass es nicht Jean-Claude war, der ihm half, aber irgendeine seltsame Kraft ließ seine Finger so ungezwungen über die Saiten
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