Das geheime Lied: Roman (German Edition)
gleiten. Es war keines seiner eigenen Werke und genauso wenig ein fremdes Stück, weder eine aktuelle noch eine klassische Komposition, doch – und er erschrak, als er auch diese dritte Möglichkeit ausschloss – er improvisierte auch nicht.
Was spielte er da bloß?
Er stimmte dieselbe Notenfolge immer und immer wieder an, und schließlich dämmerte es ihm langsam. Ihm kamen Bilder von der Schiffsreise in den Sinn, er erinnerte sich an den Fieberwahn während des Sturms, als er sich beinahe in die Fluten gestürzt hätte, weil er davon überzeugt gewesen war, über Wind und Wellen hinweg die Priesterin singen zu hören … Es gab keinen Zweifel! Er wiederholte die Phrasen, die er sich bei dem Unwetter vorgegaukelt hatte! Aber wie konnte es denn sein, dass die Melodie sich derart in seiner Erinnerung festgesetzt hatte, wenn sie nicht einmal real gewesen war?
Die Flammen des Lagerfeuers spiegelten sich flackernd in der Klinge der Machete. Die Krieger starrten noch immer wie gebannt die Violine an. Matthieu wollte nicht darüber nachdenken, was jetzt geschehen würde, um den Zauber nicht zu durchbrechen. Auch Pierre und La Bouche wagten nicht, auch nur einen Muskel zu rühren, der eine auf dem blutigen Kreis am Boden zusammengerollt, der andere den Rücken am Baumstumpf. Matthieu spielte dieselbe Melodie immer wieder und ließ dabei Ende und Anfang nahtlos ineinander übergehen. Er bemerkte nicht einmal, dass der Usurpator höchstpersönlich die Hütte betrat, zum Schamanen hinüberging und ihm die Machete aus der Hand nahm.
Mit geschlossenen Augen spielte der junge Mann nun kaum noch vernehmbar weiter. Ambovombe roch nach feuchter Erde. Der Schweiß, der seinen Körper hinabrann, vermischte sich mit der Farbe, die jeden Zentimeter seiner Haut bedeckte, zu einer teigigen Masse. Seine Brust war von Narben bedeckt, wie es bei vielen der Krieger zu sehen war. Die silbernen Scheiben, die an seinem Gürtel hingen, glitzerten im Feuerschein. Der Musiker schlug die Lider auf und begegnete dem Blick aus den von Adern durchzogenen Augen des Wilden. Mit klopfendem Herzen nahm er das Spiel wieder auf, da er fürchtete, dass der Albtraum sonst von Neuem beginnen würde. Ambovombe lauschte aufmerksam den Noten, die die Geige hervorbrachte, bis er sie Matthieu mit einem Mal aus der Hand riss. Dann richtete er sich auf und betrachtete das Instrument neugierig. Er schob den Zeigefinger in die Löcher des Korpus, zupfte an den Saiten, drehte an den Wirbeln, roch am Holz und kratzte quietschend mit dem Fingernagel daran.
»Meine Geige«, brachte Matthieu keuchend hervor.
Aus Ambovombes Bauch stieg ein lautes Grummeln auf, und eine Gruppe Frauen eilte mit untertänig gesenktem Blick herbei. Der Herrscher erteilte ihnen ein paar knappe Befehle und verschwand dann mit der Violine im dichten Rauch.
13
D ie Eingeborenenfrauen kamen den Männern vor wie die zahllosen Arme eines Kraken. Sie schnitten die Stränge durch, mit denen die drei Franzosen am Baumstamm gefesselt waren. Dabei hörten sie die ganze Zeit nicht damit auf, alle gleichzeitig auf sie einzureden. Pierre verstand kein einziges Wort. Als man sie herausführte und in die Beschneidungshütte brachte, welche als der vornehmste Ort im Dorf galt, raunte er seinen beiden Kameraden jedoch zu, dass vielleicht noch nicht alles verloren war.
Diese leere und karge Hütte unterschied sich von der vorherigen nur durch ihre Funktion und durch die größere Anziehungskraft, welche sie auf die Ahnen ausübte, die man in einer anderen, diffusen Dimension wähnte und die sich dennoch immer wieder in das alltägliche Leben der Anosy einmischten. Die Eingeborenen stellten einen ausgehöhlten Kürbis in eine Ecke der Hütte, der eine dunkle Flüssigkeit enthielt. Dann schütteten sie eine gelbliche Masse auf den Boden, die wie geröstetes Mehl aussah. Pierre hatte sich Verletzungen zugezogen, als er in den rituellen Kreis gezerrt worden war, und reinigte diese Wunden nun mit der Flüssigkeit. Er zögerte auch nicht, sich eine Hand voll des gelben Breis in den Mund zu schieben. Matthieu hatte weder Hunger noch Durst, er konnte sich kaum rühren und keinen klaren Gedanken fassen. An die Wand gelehnt saß er einfach nur da. Das Geigenspiel hatte ihn erschöpft, jeder Herzschlag war nun eine Anstrengung für ihn, aber trotz seines Zustandes stellte er sich immer und immer wieder die gleiche Frage: Welchen Verbrechens hielt man sie bloß für schuldig?
»Ich weiß nicht, was im Kopf dieses
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