Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrés Pascual
Vom Netzwerk:
Wahnsinnigen vorgeht«, bemerkte Pierre kauend. »Was zum Teufel hast du da bloß gespielt? Überleg dir für nachher besser ein anderes Stück!«
    Matthieu wollte lieber vorsichtig sein und nicht von der Melodie aus dem Unwetter sprechen, bevor er nicht genau wusste, was da eigentlich geschehen war.
    »Erst einmal brauche ich meine Violine zurück«, entgegnete er deshalb nur und wandte sich genau in dem Augenblick zum Eingang der Hütte um, als jemand die Tür von außen öffnete.
    Man brachte sie hinaus auf den Platz, auf dem das Zebu geopfert worden war. Die Eingeborenen wirkten wie ein einziger verschwitzter Körper mit Tausenden von Köpfen. Die Franzosen kamen in der Menge, die sich vor ihnen teilte, kaum voran. Der Rauch der Lagerfeuer und die drückende Hitze lagen wie eine Nebelglocke über dem Dorf, und das Atmen fiel schwer. Ganz hinten saß der Usurpator auf einem Thron aus Baumstämmen, die vier Krieger gerade mit spanischen Pesos überhäuft hatten.
    »Was sollen die Münzen?«, murmelte Matthieu.
    »Damit will er seine Untertanen beeindrucken«, erklärte Pierre.
    Aber es handelte sich nicht nur um ein Zeichen von Prestige. Ambovombe hatte von klein auf die Franzosen studiert, die in Fort Dauphin Fuß zu fassen versuchten, und wusste, dass Silberpesos viel beständiger waren als die Glasperlen, die in Europa hergestellt wurden, um in Übersee die Eingeborenen zu übervorteilen. Seine große Intuition machte bei weitem seinen Mangel an Bildung wett, wenn man jemanden, der unter der Führung des weisen alten Königs aufgewachsen war, überhaupt als ungebildet bezeichnen konnte.
    »Er ist nicht so einfältig wie andere Herrscher der afrikanischen Westküste«, bemerkte La Bouche. »Deshalb gibt er uns eine Chance.«
    »Wenn es jetzt doch noch Hoffnung gibt, dann dank meiner Musik.«
    »Seid still und senkt den Blick!«, riet ihnen Pierre und blieb vor dem Podest stehen.
    Matthieus Herz machte einen Satz, als er sah, dass der Herrscher seine Geige bei sich hatte und sie grob am Hals umfasst hielt. Mehr als je zuvor empfand er sie als einen Teil seines Körpers, den man ihm entrissen hatte.
    »Wo hast du die Musik gelernt, die du in der Hütte gespielt hast?«, fragte ihn der Usurpator ohne Umschweife.
    Seine Stimme brannte wie glühende Kohlen.
    Pierre übersetzte diese ersten Worte und erwartete die Antwort des Musikers mit derselben Ungeduld, die auch den Eingeborenen quälte.
    »Sag ihm, dass ich sie im Herzen trage.«
    »Matthieu …«
    »Übersetz es, Pierre.«
    »Verrat ihm endlich, was du da in der Hütte gespielt hast, dann kümmere ich mich um den Rest«, versetzte der Kapitän mit gedämpfter Stimme. »Mach jetzt nicht alles kaputt.«
    »Ü-ber–setz es, Pierre«, wiederholte Matthieu und betonte dabei jede Silbe.
    Der Arzt tat, wie ihm geheißen. Empörung spiegelte sich auf Ambovombes Zügen wider.
    »Warst du schon einmal auf meiner Insel?«
    Matthieu musste schlucken. Er konnte es kaum ertragen, dabei zuzusehen, wie der Herrscher ohne jedes Feingefühl mit seinem Instrument in der Luft herumfuchtelte.
    »Nein.«
    »Wie kannst du dann die heilige Melodie kennen?«, schrie Ambovombe nun zornentbrannt.
    »Heilig?« Der Kapitän wandte sich zu Matthieu um.
    »Weißt du etwa, wo diese Schlange steckt? Wann hast du sie singen hören?«
    All die Emotionen, die Matthieu beim Anblick der Eingeborenen mit der Bronzehaut an Bord der Victoire verspürt hatte, überkamen ihn plötzlich aufs Neue. Er hatte doch gewusst, dass sie es sein musste! Seine Priesterin, seine Melodie! Einen Moment lang vergaß er völlig, wo er sich gerade befand, und liebkoste sacht seine Erinnerungen. Es machte ihn glücklich zu wissen, dass er immer einen Hauch ihrer Stimme in sich tragen würde, auch wenn sich ihre Wege nie wieder kreuzen würden.
    La Bouche sah ihn entgeistert an.
    »Also stimmt es doch … Du hast im Sturm den Gesang der Priesterin gehört. Er stammte tatsächlich von ihr …«
    »Es war nur eine Phrase daraus«, entgegnete Matthieu und versuchte, die immer stärker brodelnden Gefühle in seinem Inneren unter Kontrolle zu bringen.
    »Und die Frau«, murmelte der Kapitän weiter, »die du Tage später auf Missons Boot gesehen hast …«
    »Ich habe ja versucht, es Euch zu sagen. Als der Gesang des Griot erklang, hielt sie sich die Ohren zu …«
    »Das ist doch nicht möglich …« La Bouche zermarterte sich das Hirn, um in Gedanken die Bilder der Sturmnacht heraufzubeschwören. »Sind wir etwa so nah an

Weitere Kostenlose Bücher