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Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrés Pascual
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verdienen?«
    »Sie wussten alle von den Plänen der Mondesstimme«, erklärte der Eingeborene eiskalt. »Das ist die Strafe, die Verräter verdienen.«
    »Die meisten sind doch noch Kinder …«, murmelte Matthieu ungläubig und schüttelte den Kopf. »Wie hätten sie davon wissen sollen?«
    »Wahrscheinlich hatten sie bereits ihre Nachfolgerin bestimmt …«, mutmaßte Pierre mit kaum vernehmbarer Stimme.
    Ambovombe spuckte auf die Frau, die ihm am nächsten lag, und verließ diesen Ort, gefolgt vom Schamanen und den Kriegern.
    La Bouche ging in die Hocke und schlug die Augen nieder. Matthieu schritt von einem Pflock zum nächsten und berührte das getrocknete Blut. Er kniete vor einer Hüterin mit langem, glattem Haar nieder, das ihr bis auf die Hüften fiel. Ihm dröhnte der Schädel, als würde er all diese Frauen gleichzeitig schreien hören. Durch den unerträglichen Gestank fiel das Atmen schwer.
    »Der frühere König der Anosy war ganz anders als sein Sohn«, erklärte der Arzt endlich, nachdem er zunächst nervös herumgestottert hatte. »Sein Volk hat ihn geliebt. Er hat einfach nur sein Land beschützt …«
    Matthieu sah sich rasch um, um sicherzugehen, dass La Bouche ihn nicht hören konnte.
    »Ich schwöre dir, dass wir nichts tun werden, um Ambovombes Macht noch zu vergrößern«, versprach er ernst. »Vertrau mir.«
    »Madagaskar war ein Paradies«, fuhr der Arzt untröstlich fort. »Bis zu unserer Ankunft haben die achtzehn Stämme auf der Insel jahrhundertelang friedlich zusammengelebt, jeder auf seinem Gebiet. Wir haben hier das Böse gesät. Nein! Wir sind das Böse. Die madagassischen Völker kannten keine Ungeheuer. In ihren Mythen und Legenden kämpften die Lebenden und ihre Vorfahren miteinander, aber Ungeheuer gab es nicht. Wir haben das erst erschaffen!«
    Matthieu hatte das Gefühl, in einen Abgrund zu blicken. Der Klan der Hüterinnen hatte die zerstörerischsten Launen der Natur überstanden, die Leidenschaft der alten Könige auf der Ursprungsinsel zu manipulieren gewusst und in ihrem Schutze Generation für Generation weitergelebt. Und nun blieb nichts von ihrer Sippe übrig. Der Ursprung fiel dem Ungeheuer zum Opfer, wie in der Oper in der Orangerie, und er folgte als Amadis einer geflohenen Prinzessin. Die Melodie hatte nur noch eine einzige Stimme, jungfräulich und rebellisch: die der jungen Frau mit schwarzem Haar, die gerade nach Libertalia reiste. Der Geiger wurde ganz aufgeregt, wenn er daran dachte, dass er sich in einigen Stunden auf die Suche nach ihr machen würde, gleichzeitig grämten ihn aber furchtbare Gedanken. Er konnte auf keinen Fall umkehren, er brauchte diese Melodie! Dennoch schien ihn jeder Schritt auf seinem Weg einem schrecklichen Schicksal näher zu bringen, das ihm zweifellos beschert war: die Geige auf dem Boden, eine mit seinem Blut besudelte Partitur und Finger, die nie wieder spielen würden.
    Er warf den toten Hüterinnen der Stimme einen letzten Blick zu. Er wollte sich diese Bilder bewahren, sie sollten sich in seine Netzhaut einbrennen, er wollte den Gestank nach Asche und Verwesung auf der Haut mit sich tragen und das Echo der Schreie, die zwischen den spitzen Pfählen gefangen waren,
    die Schreie …
    die Schreie …
    die für immer im tiefsten Inneren seines Herzens widerhallen würden.

14
    M ehrere Stunden lang ruhten sie auf dem Boden der Beschneidungshütte. Matthieu hatte Pierre davon überzeugt, dass sie La Bouche gegenüber so tun mussten, als würden sie sich auf sein Spielchen einlassen. Das passte ihnen überhaupt nicht, aber sie brauchten ihn, um Libertalia zu erreichen und rechtzeitig nach Fort Dauphin zurückzukehren, um mit dem Frachter der Kompanie heimzufahren. Sie würden eben improvisieren müssen, um die Pläne des Kapitäns zu vereiteln und die Priesterin zu retten.
    Die Nacht war bereits hereingebrochen, als La Bouche endlich den Mund aufmachte.
    »Bei unserer Begegnung auf hoher See hat Misson mir versichert, dass ich nur nach seinem Statthalter Caraccioli Ausschau halten muss, um auch ihn zu finden.«
    »Caraccioli, dem Piratenpriester?«, fragte Pierre unwillkürlich.
    »Er sagte, ich würde ihn beim alten Schiffsfriedhof antreffen. Offensichtlich segelt er die Südroute entlang, um ihre Seekarten zu verbessern.«
    Pierre nickte kaum merklich. Den erwähnten Ort kannte er gut. Er lag bei Sainte Luce, einem Strand in der Nähe von Fort Dauphin, an dem die ersten französischen Kolonisten auf der Insel eine provisorische

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