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Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrés Pascual
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anlügen, durfte aber auch den Wissenschaftler nicht verraten. Er entschied sich für eine Halbwahrheit.
    »Mein Onkel, Marc-Antoine Charpentier, hat es mir gegeben.«
    »Du bist ein Neffe des Komponisten? Das hatte ich nun wirklich nicht erwartet!«
    »Ihm habe ich alles zu verdanken!«
    Pierre betrachtete ihn einen Augenblick schweigend.
    »Was zum Teufel hast du dir nur dabei gedacht, als du dich auf dieses Abenteuer eingelassen hast? Fandest du die Lehrstunden bei Maestro Charpentier nicht mehr aufregend genug?«
    Pierre sprach diese Worte voller Arglosigkeit, sie lösten bei Matthieu jedoch eine ganze Flut von Gefühlen aus, weil er so gerne gewusst hätte, was in diesem Moment auf der anderen Seite des Planeten vor sich ging.
    »Wenn dir zu diesen Zeilen eine Lösung einfällt«, sagte er nur, während er das Pergament rasch zurück in seine Tasche schob, »dann verrat sie mir bitte. Oder nein, vergiss es lieber. Ich will nicht, dass dich die Sache wie mich in den Wahnsinn treibt.«
    »Aber …«
    »Du hast es doch selbst angedeutet«, fügte er schroff hinzu. »Ich sollte gar nicht hier sein.«
    Der Arzt sah ihm in die Augen und sprach ganz langsam, so dass jedes Wort bedeutsam war.
    »Matthieu, was hat es mit Lunas Melodie auf sich?«
    Lunas Melodie …
    »Ich möchte dich bitten, dich lieber nicht einzumischen. Wer auch immer in diese Geschichte hineingerät, ist verdammt.«
    »Mein Gott …«, entgegnete Pierre erschüttert, als er zum ersten Mal einen Blick hinter die schützende Maske werfen konnte, die Matthieu vom ersten Tag an zur Schau getragen hatte. »Warum fühlst du dich bloß so einsam?«
    Matthieu hätte ihm am liebsten alles von Anfang an erzählt, ohne auch nur einmal Luft zu holen: von Nathalies süßen Lippen, Jean-Claudes Tod, dem Desaster in der Orangerie, der Zelle in der Bastille, dem Tod von Dr. Evans und dem Matrosen, der Drohung der gesichtslosen Mörder, der Audienz in Versailles und vor allem von Newtons bahnbrechender Entdeckung, die den Geist verändern und ihn in etwas Reines verwandeln konnte so wie die unberührte Insel, auf der sie sich nun befanden, während in Paris die Zeiger der Uhr unerbittlich voranschritten und seine Eltern und Onkel Charpentier dem Tod immer näher brachten.
    »Es ist die Melodie der Seele, Pierre«, antwortete er lediglich. »Die Melodie der Seele.«

15
    E rst spät am nächsten Nachmittag kam der Ozean wieder in Sichtweite. Erneut Wind und Sand in den Augen. Sie gingen den Strand entlang, bis sie auf einem mit Aloepflanzen bewachsenen Hügel das Ossarium aus salzzerfressenen Hölzern und Träumen erreichten.
    »Da ist er«, verkündete La Bouche, »der Schiffsfriedhof von Sainte Luce.« Er ließ den Blick über das Gelände schweifen. »Verdammt noch mal, wie sehr ich das hier vermisst habe!«
    Die niedrig stehende Sonne ließ in der Abenddämmerung die Schaumkronen der See erglühen. Zwischen den Dünen waren die Reste von drei Schiffen zu erkennen, sie lagen unbeweglich da wie riesige Walskelette. Matthieu ging auf das nächstgelegene Wrack zu und blieb in dem Schatten stehen, den es auf den Strand warf. Er berührte die Krustentiere, die auf dem dunkel gewordenen Holz saßen. Dann hob er den Kopf und versuchte, am gebrochenen Mast noch das Überbleibsel einer Fahne zu erkennen. Er legte das Ohr an den Rumpf und vernahm darin, als wäre das Schiff eine riesige Muschel, das betörende Murmeln dieses Meeres voller Geheimnisse.
    Unter den aufmerksamen Blicken ihrer eingeborenen Begleiter verbrachten sie zwei Tage an diesem Strand und beobachteten im Sand ausgestreckt, wie die Sonne auf- und dann wieder unterging, ohne dass in der Zwischenzeit irgendetwas passiert wäre. Caraccioli erschien nicht. Viel zu viel Zeit, um nachzudenken, sagte sich Matthieu. Wie lange diese Wrackteile wohl schon hierlagen? Und wo war die Mannschaft dieser Schiffe geblieben? Standen das Holz, das im Sand verstreut lag, etwa nicht für ihre Arme und Beine und die zerfetzten Segel für ihre durch das Entern zerstörten Sehnsüchte? Und welche Formen hatten seine Mutter, das Dienstmädchen Marie, und sein Bruder Jean-Claude wohl angenommen? Waren auch sie nur hölzerne Planken und Segel, die auf irgendeinem hermetischen Ozean vor sich hin trieben? Wie konnte er wegen dieser Frau den Kopf verlieren, mit der er noch nicht einmal ein Wort gewechselt hatte, wenn doch die Seinen in Paris vielleicht gerade ihr Leben aushauchten?
    Während dieser zwei Tage voller Fragen und ohne

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