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Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrés Pascual
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betörender Blätter berauschten Anosy, der den Kopf zum Fenster der Hütte hereinsteckte.
    »Schlimmer kann es wenigstens nicht mehr werden«, antwortete er.
    Am nächsten Morgen brachte man sie erneut hinaus auf den Versammlungsplatz. Dort erwartete sie eine Gruppe Krieger, die sie bis zum Schiffsfriedhof begleiten würden. Der Schamane segnete sie mit rotem Alkohol, der aus der Rinde eines Baumes von den Hängen des Tales gewonnen wurde, und sprach mit Blick gen Himmel zu den Ahnen, so als richte er seine Worte an lebendige Menschen. Ohne weitere Umstände brachen die drei Franzosen auf, sie gingen in einer Reihe hinter den Kriegern her. Matthieu drehte sich zu Ambovombe um, der sie von seinem mit Münzen überschütteten Thron aus mit Blicken durchbohrte. Der junge Mann schwor sich, dass er an diesen Ort nur noch zurückkehren würde, um ihn niederzubrennen.
    Jedes Mal, wenn ihm die Grausamkeiten in den Sinn kamen, deren Spuren er im Dorf zu Gesicht bekommen hatte, brach es ihm das Herz. Der Gedanke an das Schicksal seiner geliebten Luna jedoch ließ ihn nicht verzweifeln, sondern spornte ihn eher an. Er wusste, dass er der Einzige war, der das Steuer herumreißen konnte, und er war sich darüber im Klaren, dass er keine Lösungen finden würde, wenn er von Hass erfüllt war. Er brauchte Emotionen, wollte etwas empfinden … Dann würden die Antworten von ganz allein kommen, wie die Musik beim Komponieren. Noch einmal wollte er dem Pulsschlag der Insel lauschen, ihrem klopfenden Herzen. Er zwang sich, die leuchtende Farbpalette in sich aufzunehmen, mit der die Riesenchamäleons kommunizierten, und dem Fiepen der Fruchtfledermäuse zu horchen, die schlafend in den Zweigen des Tamarindenbaums hingen. Gefühle durchleben, etwas empfinden … Die Gruppe machte am Rand einer Schlucht Halt, in deren Grund sich erodiertes Gestein in bizarren Formationen zeigte. Wegen ihrer Struktur und Farbe hätte man es für ein riesiges Feuer halten können. Matthieu betrachtete ein blasses Insekt, das seine purpurfarbenen Flügel ausstreckte, um eine Eidechse zu erschrecken.
    »Ich habe dir ja gesagt, dass selbst die Fantasie des einfallsreichsten Schriftstellers nicht an all diese Magie herankommt«, sagte Pierre und trat näher.
    Es waren die ersten Worte, die er seit ihrem Aufbruch im Dorf sprach. Matthieu war froh, seine Stimme wieder zu hören.
    »Jetzt wundert es mich nicht mehr, dass du jahrelang auf dieser Insel herumreisen konntest und irgendwann gar nicht mehr nach Hause zurückkehren wolltest«, erwiderte Matthieu.
    Erschöpft ließen sie sich auf die rote Erde sinken.
    »Und wie ist es bei dir?«, fragte der Arzt. »Wer wartet in Paris auf dich?«
    Mit dieser Frage hatte Matthieu nicht gerechnet.
    »Ich möchte nicht darüber sprechen …«
    »Jetzt erzähl mir nicht, dass es da niemanden gibt. Ich meine, wenn ich Geige spielen würde wie du und dann auch noch so aussähe, als hätte Bernini meine Züge gemeißelt …«, scherzte Pierre.
    Matthieu dachte an Nathalie.
    »Ich erinnere mich nicht einmal mehr an den ersten Laut, den wir gemeinsam vernommen haben.«
    »Den ersten Laut?«
    Der junge Mann schaute den Arzt an und schwieg lange.
    »Warum sollte sie auf mich warten? In meinem ganzen Leben habe ich noch nie jemanden verdient.«
    »Ich glaube, du weißt dich gar nicht richtig zu schätzen.«
    »Vielleicht traf bislang eher das Gegenteil zu.«
    »Aber wen schert das schon? Es geht im Leben darum, die Dinge jeden Tag ein bisschen besser zu machen, nicht darum, die Fehler der Vergangenheit zu analysieren. Oft kommt uns unser Dasein wie ein schwer zu entschlüsselndes Rätsel vor.«
    »Ein Rätsel …«
    »Genau.«
    Nun erwachte Matthieu endlich aus seinem Dämmerzustand. »Ich möchte dir gerne etwas zeigen«, verkündete er.
    Er schob die Hand in seinen Lederbeutel und faltete Newtons Papier auseinander. Beim Kontakt mit der frischen Luft schienen die Sätze sich zu strecken und zu recken:
    »Sonne, deine Strahlen berühren mich nicht.
    Blinzle in die Dunkelheit wie zum Anbeginn.
    Und ich, dein Mond, vergieße Tränen über der Frucht …«
    »Über der Frucht …«, wiederholte der Arzt.
    »Lies weiter.«
    »Wer bist du ohne mein Liebkosen? Und was kann ich tun, außer zu schreien, wenn du erlischst?«, rezitierte er mit lauter Stimme. »Was hat das zu bedeuten?«
    »Ich hatte gehofft, dass du mir im Hinblick auf diese Insel etwas dazu sagen könntest.«
    »Woher stammt das Schriftstück?«
    Matthieu wollte ihn nicht

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