Das geheime Lied: Roman (German Edition)
Kirche war es nicht weit. Matthieu machte einen Bogen um die Kathedrale und überquerte die rote Brücke, die die Cité mit der Saint-Louis-Insel verband. Er nahm gerne die Abkürzung über jenes Gelände, auf dem sich bereits seit Jahrzehnten eine Baustelle befand. Jahrhundertelang war die Insel als Île aux Vaches bekannt gewesen – da auf ihr nur Kühe gegrast hatten –, aber ein aufgeweckter Bauunternehmer hatte sich überlegt, dass ihre Nähe zum Stadtzentrum ihr eine goldene Zukunft bescheren konnte, und begonnen, dort ein Gebäude nach dem anderen hochzuziehen. Matthieu dachte bei sich, dass dies ein guter Ort wäre, um dort zu leben, noch besser als der kleine Palast von Nathalies Onkel, über den die Sängerin so spöttisch gesprochen hatte.
Er erreichte die Rückseite der Kirche, ging um das Gotteshaus herum und blieb vor den sechs imposanten Säulen stehen, die die Freitreppe am Eingang säumten. Im Inneren erklang immer lautere Musik. Charpentier war da und heute offensichtlich besonders inspiriert. So dröhnend ertönte die Orgel, dass die Kirchenfenster schier zu zerspringen drohten. Bevor er eintrat, lauschte Matthieu den Klängen einige Sekunden. Er hörte immer gerne zu, wenn sein Onkel Fragmente seiner neuen Kompositionen spielte. Es machte ihm Spaß, diese Bruchstücke in Gedanken zu vollenden und später zu überprüfen, ob das fertige Werk dem ähnelte, was er sich ausgemalt hatte. Als er die Tür aufschob, trafen ihn die vier Stimmen, die sein Onkel gleichzeitig zu interpretieren vermochte, mitten ins Herz. Der Maestro fand sich mit Händen und Füßen in dem komplexen Getriebe aus Ventilen und Röhren mühelos zurecht und schien selbst ein Teil des Instruments zu sein.
Matthieu stieg die enge Wendeltreppe hoch, die zur Orgeltribüne führte. Charpentier saß über die Tasten gebeugt da. Matthieu näherte sich langsam und blieb stehen, ohne seinen Onkel zu unterbrechen.
»Ich hätte diese Messe schon vor Tagen fertigstellen müssen«, klagte der Maestro auf einmal, den Blick noch immer auf das Instrument gerichtet.
»Geht die Sache doch lieber in Ruhe an.«
»Die sitzen mir im Nacken, und es passt mir gar nicht, unter Druck arbeiten zu müssen.«
»Wer sitzt Euch im Nacken?«
»Die Jesuiten. Die lassen mich ja die Orgel hier benutzen, und jetzt bitten sie mich auf einmal, sie flehen mich sogar an«, korrigierte er sich ironisch, während er sich wütend zu seinem Neffen umdrehte, »dass ich im Gegenzug etwas zu ihren Theateraufführungen am Louis-Le-Grand-Kolleg beitrage. Ich soll mich um die musikalische Pausengestaltung kümmern.«
»Das Theater floriert eben in Frankreich, und der Orden will sicher auch in diesem Bereich Präsenz zeigen.«
»Das ziemt sich für Männer Gottes doch gar nicht. Du solltest mal die Inszenierungen und Kulissen sehen. Sie sind pompöser als die hier in Paris!«
»Aber Ihr vergebt Euch doch nichts, wenn Ihr ein paar Melodien für sie komponiert. Oder besser noch, gebt ihnen einfach welche, die Ihr eigentlich verworfen habt, und stellt ihnen dafür auch noch eine ordentliche Summe in Rechnung …«
»Es geht nicht darum, was sie mir zahlen. Ich will mich nur einfach nicht für diese Farce einspannen lassen. Das hat doch nichts mit Religion oder Politik zu tun …«
Dann verstummte er plötzlich und konzentrierte sich wieder auf seine Komposition. Er strich eine Triole aus Achtelnoten, die er eben erst hinzugefügt hatte. Seine Bewegungen waren so fahrig, dass er die Partitur dabei noch mehr verschmierte.
»Sind das vier Stimmen?«, wechselte Matthieu das Thema und sah über die Schulter seines Onkels auf das Papier.
»Vier Stimmen, vier Violinen, zwei Flöten und zwei Oboen«, erklärte Charpentier und zeigte zum ersten Mal ein Lächeln.
»Flöten und Oboen in einer Messe …«, murmelte Matthieu fasziniert.
»Diese Blasinstrumente habe ich ausgewählt, weil ihr Klang Ähnlichkeit mit einigen Registern der Orgel hat. Ich möchte, dass mehrere Musiker das Werk gleichzeitig vortragen, nicht nur ein einziger Organist, der alle Tonfolgen übernimmt.«
»Und das Ergebnis wird ein Stück voller Feinheiten und Nuancen …«
Charpentier erinnerte sich an die Zeiten, in denen sein Neffe ihn besucht hatte, wenn er Orgel spielte, und seine einzige Sorge gewesen war, dass sein Vater es vielleicht mitbekommen könnte. Inzwischen war Matthieu etwa genauso alt wie er damals. Wie er sich verändert hatte! Der Komponist erkannte sich selbst fünfzehn Jahre zuvor
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