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Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrés Pascual
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in ihm wieder: dasselbe ungestüme Wesen, die Feinfühligkeit, die alle – auch die kaum wahrnehmbaren – Gesten seiner Hände kennzeichneten, wie zum Beispiel in diesem Moment, als er die Partitur las.
    »Sie wird einfach perfekt«, bemerkte Matthieu, nachdem er die Seiten auf dem Notenständer durchgegangen war.
    Behutsam legte der Komponist den Kohlestift auf eine weiße Taste, das hohe A, umrahmt vom schwarzen Gis und B. Er drehte sich auf dem Hocker um und reckte ein paarmal den Hals, um die Verspannungen zu lösen, die er immer verspürte, wenn es ihm nicht gelang, einen Abschnitt zu vollenden.
    »Kommst du aus der Musikschule?«
    »Heute war ich gar nicht da«, gab Matthieu unbekümmert zu und tat so, als würde er sich wieder in die Partitur vertiefen, fünf Linien voller Kritzeleien, die nur sie verstanden.
    Charpentier warf ihm einen seiner strengsten Blicke zu.
    »Hast du Maestro Lully denn inzwischen erzählt, dass du mein Neffe bist?«
    Das war der Direktor der Königlichen Musikakademie, der außerdem einigen Meistermusikern Räumlichkeiten für ihre Privatstunden zur Verfügung stellte, um so die neuen musikalischen Talente von Anfang an unter Kontrolle zu haben. Lully war der berühmteste Komponist seiner Zeit: Er war zum persönlichen Berater des Sonnenkönigs aufgestiegen und damit im Bereich der Musik die einflussreichste Persönlichkeit in ganz Frankreich.
    »Ihr wollt wohl, dass man mich der Schule verweist!«, klagte Matthieu in ein wenig kindischem Tonfall und wandte sich von Charpentier ab, als hätte dieser ihn beleidigt.
    »Du hast mir doch versprochen, dass du es ihm sagst! Und außerdem: Wofür brauchst du ihn bloß? Verlass seine Schule und mach diesem Problem ein Ende. Bei mir hast du mehr gelernt, als dir eine Million Lullys beibringen könnten.«
    »Ich gehe doch nicht dorthin, um spielen zu lernen.«
    »Diese verfluchten Hofdamen haben dir wirklich den Kopf verdreht, und ich spreche jetzt mal nur von diesem Körperteil, um nicht unter die Gürtellinie zu gehen.«
    »Also bitte! Ihr wisst genau, dass jenen, die in Versailles musizieren, die Türen in ganz Europa offen stehen. Aber wer sich Maestro Lully widersetzt, der hat schon verspielt. Ich bin auf sein Wohlwollen angewiesen, um mir Zugang bei Hofe zu verschaffen! Wollt Ihr etwa, dass es mir genauso ergeht wie Euch?«
    Es tat Charpentier weh, Matthieu so reden zu hören. In den höfischen Kreisen hätte man ihn durchaus akzeptiert, obwohl er ein Protegé von Mademoiselle de Guise war, so überragend war die Qualität seiner Kompositionen. Lully aber, der um seine Vormachtstellung bangte, hatte alles getan, um ihn vom Hofe fernzuhalten.
    »Sprich mit Lully«, beschwor Charpentier den jungen Mann. »Und möge Gott entscheiden. Aber leb nicht weiter mit dieser Lüge. Ich vertraue darauf, dass dieser eitle Bursche nicht so dumm ist, dein Talent zu vergeuden, nur weil du mein Neffe bist.«
    Unterschätzt Euch bloß nicht, dachte Matthieu bei sich. Die Feindschaft zwischen den beiden Komponisten war mit den Jahren immer größer geworden, erst recht seit Molière die Musik zu seinen Komödien von Charpentier schreiben ließ, da er mit seinem früheren Komponisten Lully zerstritten war. Der junge und ehrgeizige Matthieu hatte verstanden, dass jeder Musiker, der Lully für sich einnahm, damit auch den König für sich gewonnen hatte. Schließlich waren die beiden gemeinsam aufgewachsen. Lully war als vierzehn Jahre alter Bursche nach Paris gekommen, kurz nachdem Ludwig XIV . den Thron bestiegen hatte. Er war damals bereits ein Ausnahmegeiger und auch ein guter Tänzer gewesen, wodurch er gemeinsam mit dem Souverän im Ballet Royal de la Nuit auf der Bühne gestanden hatte. Mit der Zeit hatte er sich unzählige Privilegien erworben. Die Monarchie hatte ihr Ansehen gefestigt und der Sonnenkönig eine unumstößliche Verbindung zwischen Musik und Macht angestrebt, weshalb er Lully zu seinem Ratgeber berufen hatte. Aber selbst das hatte dem Herrscher nicht genügt, darum hatte er die Königliche Musikakademie gegründet und seinen Berater zum Direktor ernannt. Dieser übte sein Amt wie ein Tyrann aus und ging sogar so weit, bei einer Strafe von zehntausend Livre zu verbieten, dass ohne seine Erlaubnis gesungen wurde, egal ob auf Französisch oder in irgendeiner anderen Sprache. Nachdem Matthieu festgestellt hatte, dass Lully diese despotische Haltung in jedem Bereich seines Schaffens einnahm, wäre es ihm nicht im Traum eingefallen, dem

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