Das geheime Lied: Roman (German Edition)
Antworten erreichte er mehrmals einen wahren Tiefpunkt. Schließlich war er irgendwann davon überzeugt, dass Luna in Wirklichkeit gar nicht existierte. Sie war bestimmt nur aus der Notwendigkeit entstanden, auf etwas Handfestes hoffen zu können, das der Tortur in seinem Kopf ein Ende bereiten würde.
Er versuchte sich zu entspannen, indem er die Laute der Umgebung analysierte, wie er es von klein auf getan hatte. Er lauschte dem Murmeln der Wellen, dem Rauschen der Blätter im Wäldchen jenseits des Strandes und dem Geräusch der Sandkörner, die sich mit jedem Windhauch aneinanderrieben. Dies verstärkte jedoch nur die Ohrenschmerzen, die ihn auf dieser Insel bereits ein paarmal heimgesucht hatten. Er war verzweifelt. Sein Gehör durfte ihn nicht im Stich lassen, es war doch seine Leidenschaft, seine Waffe. Das alles lag sicher an der Erschöpfung und an der Anspannung des Wartens. Wie lange würden sie hier noch ausharren müssen?
Am dritten Tag wandte er sich an La Bouche: »Wir brechen auf.«
»Wie bitte?«
»Wir können es uns nicht leisten, hier untätig herumzusitzen.«
»Du hast Misson doch gehört. Er hat mir versichert, dass sein zweiter Mann …«
»Und Ihr habt selbst gesagt, dass Ihr notfalls ein Boot seetüchtig machen würdet, um die Küste in Richtung Norden abzufahren und nach ihm zu suchen.«
»Ja«, antwortete der Kapitän wortkarg.
Pierre sah kurz auf, aber an seinem abwesenden Gesichtsausdruck änderte sich nichts, und er roch wieder an dem weißen Saft eines gerade abgeschnittenen Aloeblatts.
»Tut doch, was Ihr wollt«, fauchte Matthieu frustriert. »Ich komme schon allein zurecht.«
Er ging in Richtung der Schiffswracks davon.
»Dieser verdammte Musiker …«, murmelte La Bouche, während er aufstand und dem jungen Mann folgte.
Von diesem Moment an ging alles ganz schnell. Auf einem der gestrandeten Schiffe wählten sie ein Beiboot aus, das in gutem Zustand zu sein schien, und schleppten es gemeinsam zum Strand hinunter.
»Das könnte ich wohl ohne Hilfe steuern«, bestätigte La Bouche, der sich hinhockte, um auch den Zustand des Kiels zu überprüfen. Dann klopfte er liebevoll gegen das Holz. »Und es wird die Fahrt auch überstehen. Lasst uns ein Segelboot daraus machen!«
Wie La Bouche vorhergesehen hatte, war es nicht sonderlich schwierig, eine Takelage zu improvisieren. Die drei Franzosen waren die ganze Nacht und den folgenden Tag damit beschäftigt. Mit Hilfe der Anosy-Krieger, die über wenig handwerkliches Geschick, dafür aber umso mehr rohe Kraft verfügten, zersägten sie zwei Pfosten eines Wracks, um sie als Mast und Giekbaum zu verwenden, schnitten ein unversehrtes Stück Segeltuch ab, um es der Größe ihres Kahns anzupassen, befestigten an Bug und Heck leicht wackelige Wanten und Stagen, fabrizierten mit Metallstücken einen wirklich beeindruckenden Anker und reparierten einige Fässer, die sie für die Fahrt mit Trinkwasser und Obst füllten.
Als sie mit allem fertig waren, stemmte sich Matthieu mit der Schulter gegen das Boot, um es ins Wasser zu schieben, und forderte die anderen zur Mithilfe auf. Er war fest entschlossen, nicht eine weitere Minute zu verlieren. Während sie sich vom Strand entfernten und die heftige Brandung überwanden, blickte der Musiker zurück und betrachtete die reglosen Figuren der Anosy am Ufer. Er hatte das Gefühl, dass er sie nie wiedersehen würde. War das nun ein Grund zum Feiern? Nicht nach Fort Dauphin zurückzukehren würde auch bedeuten, auf ihrer Rückfahrt nicht von der Aventure mitgenommen zu werden. Er machte die Augen zu und beschloss, nur noch dem Moment zu lauschen: den Atemzügen der Eingeborenen am Strand, dem aufbegehrenden Wind, dem sich blähenden Segeltuch und dem Kiel, der die schäumende Wasseroberfläche zerteilte und der glühenden Linie des Horizonts entgegeneilte …
Nachdem sie der Küstenlinie vier Tage lang gefolgt waren, ohne eine Spur von Caraccioli zu entdecken, erfüllte auf einmal ein so süßer Duft das zusammengeschusterte Boot, das er sich auf ihrer Haut festsetzte. Es war tiefschwarze Nacht, und sie waren vor Erschöpfung eingeschlafen. La Bouche spürte, wie seine Nase vom Duft überwältig wurde, und schlug mit einem Mal die Augen auf.
»Verdammt noch mal!« Wie von der Tarantel gestochen sprang er hoch. »Wer hatte denn gerade Wache?«
»Was ist los?«, fragte Matthieu erschrocken.
Am Himmel stand kein Mond. Das Boot wurde heftig hin und her geworfen. An dieser Stelle schien auf einmal
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